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Reisetagebuch

10/6/2005   Aethiopien / Addis Abeba

Stille Tage im Klischee

Ueber Adoptionen

(Harald) Ich habe aufgrund der Empfehlung von Elias und Firehiwot, den Inhabern des Netcafes, die Unterkunft gewechselt. Hinter einer Maennersaune werden auch Zimmer vermietet. Die Saunanutzung mit Massage kosten rd. 6 EUR. und scheint in etwa wie eine tuerkische Sauna abzulaufen.

Mein Kampf gegen die quaelenden Floehe zeigt endlich Wirkung. Nun sitzen nur noch ein oder zwei in meiner Kleidung, denn ich stelle mich letztlich in kompletter Kleidung unter die Dusche, nachdem der ganze Boden im Bad nass ist, so dass eine Neu-"Infektion" unwahrscheinlich ist. Floehe ertrinken sehr leicht, wie ich laengst herausgefunden habe. Die getragene Kleidung muss taeglich, wie unter Qarantaene, in Plastiktueten gestopft werden. Ich dusche 2x taeglich, haenge die Kleidung in die Sonne, was ebenfalls die Floehe vertreibt und lasse sie buegeln. Faehrt man aber mit den Minibussen, so sitzt man zwangslaeufig auch mal neben Leuten, die die letzte Nacht auf der Strasse verbracht zu haben scheinen und die geben einem grosszuegig ihre "aethiopischen Pfefferkoerner" ab. Desgleichen im Kino, oder im Gerdraenge auf den Gehsteigen zwischen den Strassenstaenden.

Um alles fuer eine Unterbringung von Andargatschu und Molugetta vorzubereiten, webe ich ein Netz aus sozialen Kontakten ueber Hotelmitarbeiter, Internetcafeleute und Leute aus dem nahen CD-Laden. Ich besuche auch das Centro Aiuto, jenes Heim, in dem die beiden Maedchen Bethelihem und Eyerusalem acht Monate lang untergebracht waren, bevor sie von ihren neuen Eltern nach Italien adoptiert wurden. Dort wird ausgebaut, neue Unterkuenfte fuer italienische Adoptiveltern entstehen. Die Kinder, die hier zum ersten Mal auf ihre zukuenftigen Eltern treffen, duerfen das Heimgelaende waehrend der ganzen Zeit ihrer Unterbringung nicht verlassen. Auch die beiden Maedchen waren acht Monate lang hier untergebracht. Das Heim sieht von aussen wie ein Lager aus, mehrere Wachtuerme (die jedoch nicht besetzt sind), 3 m hohe Mauern, Stacheldraht. Innen eine katholische Kirche.

Ich spreche mit angehenden Eltern, die hier einige Tage mit ihren neuen Kindern verbringen. Manche bleiben zwei Wochen, einige nur wenige Tage. Die meisten adoptieren ein Kind, aber Roberto Crippa holt gerade zwei Jungs ab und hat damit sechs aethiopische Adoptivkinder. Seine aelteste Tochter ist etwa acht Jahre alt und mit nach Addis gekommen. Sie spricht nach nur einem Jahr Aufenthalt in ihrer neuen Heimat Italienisch und uebersetzt fuer ihren Vater und lernt ihre neuen Geschwister kennen.

Ehepaare durchlaufen in Italien eine vergleichbare Prozedur wie in Deutschland, wenn sie ein Kind aus dem Ausland adoptieren wollen. Vom Antrag bis zur ersten Umarmung dauert es zwei bis drei Jahre. Die Kosten sind nicht unerheblich und die Behorden pruefen beobachtend die Stabilitaet der Ehe, die Eignung der Eltern und die Verhaeltnisse der Unterbringung. In der neuen Heimat sind die afrikanischen Kinder schwerer zu integrieren, als italienische. Die Probleme liegen auf allen Seiten. Die Kinder sind in Afrika sozialisiert worden und muessen sich an die neuen Verhaeltnisse gewoehnen. Dafuer bringen sie jedoch i.d.R. ein gutes Ruestzeug mit: ihre Selbstaendigkeit, ihr Bewusstsein fuer die gebotene Chance, die Tatsache, dass sie nicht verwoehnt sind. Trotzdem sind Adoptiveltern oft leidgeprueft. Die Kinder haben meist tief verinnerlicht, dass Weisse auf Schwarze herabschauen, woraus sich Minderwertigkeitsgefuehle entwickeln, die sowieso schon auf adoptierten Kindern lasten, die sich als Zurueckgewiesene, als "Heimkinder" und Bittsteller empfinden. Die notwendige Strenge ihrer neuen Eltern wird dann von den Kindern allzu leicht in die rassistische Ecke geschoben: "Du liebst mich nicht, weil ich schwarz bin." "Reiche" Europaeer, die z.B. in Aethiopien aus Unverstaendnis oft unter recht obskuren Blickwinkeln gesehen werden, adoptieren "arme" Afrikaner- allein das ist nicht leicht zu ueberwinden.

Ein beliebter Diskussionsstoff von Weissen, selbst von "Afrika-Experten", die lange in Afrika gelebt haben und sogar in der "Branche" arbeiten, also Kinderheime finanzieren, leiten, an Schulen unterrichten etc., ist das Thema "echter" Waisenschaft. "Die Eltern sind ja garnicht tot" wird da fast vorwurfsvoll angefuehrt. Nur Vollwaisen sollen aufgenommen und unterstuetzt werden. Dabei wird uebersehen, dass es in fast allen afrikanischen Laendern nur rudimentaere staatliche Sozialsysteme gibt. Stirbt ein Elternteil, ist der hinterlassene oft nicht in der Lage die zahlreichen Kinder zu versorgen. Schwere Krankheit des Vaters raubt diesem oft den Arbeitsplatz- Kuendigungsschutz, Arbeitslosen- oder Krankengeld gibt es nicht. Hinzu kommen millionen von Faellen, in denen die Kinder und die Mutter vom Vater geschlagen oder missbraucht werden. Alkohol spielt hier eine grosse Rolle, wobei Alkoholismus wiederum eine der negativen Folgen der Entwurzelung der Menschen ist, die eine Lebensweise aufgegeben haben, die ihre eigene war und auf die sie daher stolz waren und eine fremde annehmen, die u.a. eine Armutsdefinition mitbringt, die die Betroffenen entwertet.

Die Frauen koennen diesen Umstaenden oft nur unter unglaublich tapferen Anstrengungen entfliehen, denn in Afrika heisst der Rat: "Die Frau muss ihren Ehemann unterstuetzen." Gewalt in der Familie gilt vielfach als nahezu unvermeidlich und wird als "manchmal notwendig" abgetan. Die Frau, die sich vom Mann trennt, begibt sich oft in den freien Fall. Bindet sich eine geschiedene Mutter- vor allem aus finanziellen Gruenden- an einen neuen Mann, erwartet dieser oft, dass sie seine eigenen Kinder gebiert und verstoesst die Kinder des anderen Vaters, oder er treibt die Zustaende derart auf die Spitze, dass die Kinder von sich aus fliehen und auf den Strassen landen. Maedchen lernen schnell, dass Prostitution ihnen ein Auskommen verspricht, Jungen das Gewalt und Verbrechen sich auszahlen koennen.

Die Frage, ob ein Kind ein "echtes" Waisenkind ist, ist zwar pruefenswert, um zu verhindern, dass sich aus der Auslandsadoption ein Riesengeschaeft entwickelt, und auch, um leichtfertiges Kinderverstossen nicht zu foerdern. Aber solange europaeische Organisationen keine Gelder fuer Kinder zahlen, wird es keine "Adoptionsbranche" geben.

Wie in jeder menschlichen Gesellschaft, so gab es auch in Afrika traditionelle Sicherungssyteme fuer Witwen- und Waisenschaft. Starb z.B. der Mann, so war der aelteste Bruder des Mannes oft verpflichtet, die Frau zu heiraten und sie somit zu beschuetzen und zu versorgen. Wenn der aelteste Bruder, der die Nachfolge des Vaters als Familienoberhaupt uebernahm, die Witwe heiratete, war die Gefahr gebannt, dass er die Kinder verstiess und diese des verwandtschaftlichen Gefueges beraubt wurden.

Aber die traditionellen Systeme funktonieren nicht mehr. In einer bargeldlosen Gesellschaft ging es um einfache Dinge: Unterkunft, Sicherheit, Nahrung, Kleidung, Einbindung, also Dinge, die relativ einfach zur Vefuegung zu stellen waren. Heute geht es um Einkommen, Schulplaetze, -geld und Uniformen, Miete, Fahrkosten usw. Die Maenner arbeiten dort, wo es Arbeit gibt, nicht mehr dort, wo ihre Verwandtschaft wohnt. Die Bindungen sind geloest, traditionelle Verpflichtungen werden nicht mehr angenommen und als ueberkommen angesehen. Der pauschale Rat: "Lebt so wie wir leben, dann wir alles gut" zeigt sich auch hierin als falsch. Konnte man einem Mann, der sich von seiner Frau und den Kindern geloest hat und seinen Unterhalts-verpflichtungen nicht nachkam, frueher noch mit einem Fluch drohen, oder mit Pruegel durch die Brueder oder Nachbarn, so greift das heute nicht mehr. Der Vater entzieht sich der Kontrolle durch Wegzug und der Staat kann ihn nicht auffinden oder durchsetzen, dass er Unterhalt zahlt.

Die stellvetr. Direktorin des Heimes, Frau Assia, ist misstrauisch, als sie meine Kamera sieht und verbietet mir Fotos. Herr Rabattoni, der Leiter des Heimes, ist Italiener und verwaltet alle 17 Standorte in Aethiopien, ein vielbeschaeftigter Mann, der im Moment in Rom ist. Die Buben hier zur Adoption zu bringen sei unmoeglich, sagt man mir. Das weiss ich natuerlich. In den Faellen, in denen man ein weiches Herz hatte und aeltere Kinder hier aufnahm, hat sch kein Adoptionselternpaar gefunden und nun leben sie seit Jahren in diesen lageraehnlichen Verhaeltnissen, die sich auf lange Dauer wie ein Gefaengniss ausmachen, denn selbst der Unterricht findet in eigenen Raeumen statt.

Ich fuehre zwei Adoptivelternpaare etwas durch Addis Abeba. Wir mieten einen Bus und sprechen waehrend der Fahrt ueber die Gesellschaft, aus der ihre neuen Kinder stammen. Francesco ist 38 und sagt: "Ich bin zum ersten Mal und erst seit drei Tagen Vater geworden und das gleich von drei Kindern!" Er spricht vier Sprachen und hat in Frankfurt gearbeitet. Ich bin erstaunt, wie wenig die Adoptiveltern ueber das Heimatland ihrer Kinder wissen. Vorherrschend ist ein Gefuehl von Angst: nicht in die Randgebiete der Stadt, nicht vom Auto und dem Fahrer weg, nicht in die Massen eintauchen! Ihre ganze Haltung, ihr Gesichtsausdruck ist aengstlich. Francesco war ein halbes Jahr in Indien und ist weniger irritiert.

In einem der Luxussupermaerkte an der Ausfallstrasse zum Flughafen kaufen wir ein. Draussen fahren LKW-Ladungen von Polizisten vor, die sich beidseits der ganzen Strassenlaenge von mehreren km aufstellen und alles von der Strasse scheuchen, selbst mich, obwohl ich als Attentaeter auf den nun vorbeirasenden Praesidenten Aethiopiens, Meles Zenawi, sicher nicht in Frage komme. Der Mann sollte abtreten, um den Volkszorn nicht weiter aufzukochen, aber das tut er nicht. Stattdessen spielt er die uralte Karte der Kriegsdrohung, um sein Land gegen den aeusseren Feind nach innen zu einen. Dafuer muss wieder die ehemalige Provinz Eritrea herhalten, gegen die 1998 bis 2000 Krieg gefuehrt wurde. Das Eritrea, einst eine von vielen Provinzen Aethiopiens, heute ein eigener Staat ist, "verdankt" es der vergangenen Besetzung durch die Italiener.

Die Eltern wollen schnell zurueck ins Heim, obwohl dieser kleine Ausflug fuer ihre Kinder die einzige Chance ist, einmal etwas von der Hauptstadt ihres Landes zu sehen, denn die Kinder kommen i.d.R. von weither.

Im Heim werde ich Zeuge, wie ein Adoptivvater seinen etwa anderthalb Jahre alten Sohn mehrfach auf den Po schlaegt. Andere haben ihre neuen Kinder sofort komplett neu eingekleidet- in Pink. Sie kaufen ihnen Barbiepuppen und Duplex-Spielzeug, nehmen sie staendig auf den Arm und kuessen sie. Ich sehe viele widerwillige Gesichter bei den Kindern, denen diese ueberfallartige Zutraulichkeit zuviel ist. Soviel Zupfen hier und Ordnen dort und ermahnen, ueberhaupt soviel Beobachtung und Korrektur sind aethiopische Kinder von ihren leiblichen Eltern nicht gewohnt.

Umlagert ist die Wandkarte, die Italien darstellt. "Wo werde ich wohnen?" fragen die Kinder immer wieder. "Wo wohnst du bald?" fragen die noch nicht adoptierten.

Beim Essen gibt es Traenen. Die neuen Eltern haben gemeinsam gekocht, aber natuerlich nicht Indschera, sondern Pasta und die werden gegessen. Basta. Angewiderte Gesichter, lustloses Herumgeschiebe der Nudeln mit den Gabeln. Und mit den Haenden isst man nicht!

Ich bekomme Bier angeboten. "Ein Deutscher der kein Bier trinkt?" fragt man, als ich ablehne. "Italiener, die keinen Wein trinken?" kontere ich. Klischee, Klischee.

Franco erzaehlt mir, dass Aethiopien in Italien das Image eines besser entwickelten Staates hat. Nichts koennte der Realitaet mehr widersprechen. Aethiopien zaehlt zu den 10 aermsten Laendern der Welt; Uganda oder Kenia, Aegypten oder Zimbabwe sind da viel besser entwickelt. Franco erklaert sich diese Fehleinschaetzung seiner Landsleute damit, dass die meisten nur die besten Viertel von Addis kennen und selbst bei Reisen im Lande nicht ueber touristische Attraktionen hinaus kommen. Addis hat mehr Bettler, Krueppel, Blinde und Menschen die auf der Strasse leben, als jede andere afrikanische Stadt die ich kennengelernt habe: Kairo, Khartum, Nairobi, Lilongwe, Daressalam, Harare, Lilongwe, Maputo, Johannesburg.

Ich frage Francesco: "Warum ein schwarzes Kind?" "Wir fanden es falsch, wie die meisten anderen nur ein weisses Kind zu adoptieren. Ausserdem sind diese Kinder sehr lebendig, froh, sie lachen, sind aufnahmedurstig." Aber sie werden immer als Afrikaner angesehen werden, mancher Aethiopier mag auch als Inder durchgehen. Aber sie werden immer anders sein. Ich erzaehle das Bsp. der Russlanddeutschen, von denen mehrere in meinem Geschaeft gearbeitet haben. In Russland waren sie immer "die Schwaben" oder die "Germanskis" und in Deutschland angekommen, sind sie stets die "Russen".

"Manche Eltern wollen weisse Kinder, damit niemand ahnt, dass sie keine leiblichen Kinder sind", sagt Franco. "Manche verschweigen ihren Kindern sogar, dass sie adoptiert sind. Wir werden unsere Kinder lehren, dass sie etwas Besonderes sind. Meine Jungs bringen schon soviel Selbstaendigkeit mit" freut sich Franco.

Franco weiss, dass der Vater seiner drei Jungs tot ist, die Mutter aber vermutlich noch lebt. Ich glaube das sofort. "Es macht keinen Unterschied, ob die Mutter lebt, ob sie krank oder tot ist, ob es Verwandte gibt. Fakt ist: sie sind jetzt hier und koennen nicht zurueck und sie sind allein." Da bin ich anderer Meinung.

"Wir wollten eigentlich nur 2 Kinder, aber drei ist auch o.k." sagt Franco fast lakonisch.

Centro Aiuto hat bisher ca. 19.000 Fernadoptionen durchgefuehrt und ist nicht die einzige Fernadoptions-NGO in Aethiopien.

Manche Adoption funktioniert nicht. Einmal adoptiert, sind die Kinder jedoch europaeische Staatsbuerger und koennen nicht mehr ins Herkunftsland abgeschoben werden. Sie werden erneut adoptiert oder landen in Heimen der neuen Heimat.

Als zwei Jungs zu raufen beginnen, greifen die Muetter sofort ein. Aber es handelte sich garnicht um einen ernsten Streit. Anstatt Regeln fuer aggressives Verhalten aufzustellen, soll dieses Gefuehl unterdrueckt werden. Aber es ist dieses Durchsetzungsvermoegen, was die Kinder hat oft ueberleben lassen und es ist auch diese Kraft, die sie zu etwas Besonderem macht.

geschrieben am 24.1. in Krefeld


 


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