10/13/2005 Aethiopien / Bahir Dahr
Hurrah, die Schule brennt?
Die Geschichte der Eltern
(Harald) "Wie lieben wir es doch, Dinge fuer andere Menschen zu lieben; wie lieben wir es, wenn andere die Dinge durch unsere Augen lieben." John Irving, "Gottes Werk und Teufels Beitrag" Donnerstag. Mike und die Jungs kommen zum Hotel und wir fruehstuecken gemeinsam auf der schmalen Terrasse eines Restaurants. Mike, der eigentlich Maymer heisst, geht es nicht gut. Er weiss, dass ich bald wieder abreise und dass er in dieser Zeit nicht im Mittelpunkt steht. Wir sprechen ueber seine Plaene, die mehr verzweifelten Hoffnungen aehneln: Schule besuchen, Kurse belegen, mit dem Trinken aufhoeren, mit dem Tschatt-Kauen auch. Eine Frau, Kinder. Ich sehe in seine leicht vorstehenden, geroetet-trueben Augen, sehe alt gewordene Traurigkeit in einem Mann Anfang Zwanzig. Einer aus der Generation derjenigen, die jeden Morgen aufstehen, ihre Muskeln spielen lassen und fragen: "Wo sind die Klaviere?" - nur um erneut in Resignation zu versinken. Durch dieses Land wird kein Ruck gehen, die Perspektiven sind schlecht und niemand spuert das derart wie die jungen Maenner, die etwas auf die Beine stellen, etwas bewegen wollen und die eine Richtung brauchen, in die sie ihre Reise tragen soll. Die Welt bietet ihnen kaum eine Chance. Und einem Mann in den Zwanzigern kann man nichts von Geduld erzaehlen, von kuenftigen Generationen, die es mal besser haben koennten. In diesen Jungs liegt nicht nur die Zukunft des Landes, sondern auch ihr moegliches, noch tieferes Verderben, wenn sie aus Verzweiflung handeln. Ich moechte alle Verwandten von Andy (Andargatschu) und Mogli (Molugetta) ausfindig machen und moegliche Freunde der Familie. Ich habe den Jungs durch Mike gesagt, dass sie mir die Wahrheit sagen sollen, weil ich sie- egal was sie mir erzaehlen- in jedem Fall mit nach Addis nehme. Und so erfahre ich von einer Nachbarin, die sich um die Jungs gekuemmert hat. Aethiopische Staedte sind in Distrikte unterteilt, die sich Kebeles nennen und wir gehen ins Kebele 7. Die Frau begruesst mich hoeflich und freundlich vor ihrem winzigen Lehmhaus mit Blechdach. Es ist sauber, eng und dunkel. Die dunkelbraunen Lehmwaende reflektieren kein Licht, schlucken aber den Schall und man meint in einem Kleiderschrank zu sitzen. Es gibt zwei Betten, eine Couch und keinesfalls genug Platz fuer Andy und Mogli. Ein Nachbarmaedchen bereitet eine Kaffeezeremonie und verbrennt Raeucherstaebchen. Ich werde von den Kindern mit etwas Scheu betrachtet, die Mutter spricht leise und zurueckhaltend. Frau Mulu Gadamu ist 33 und hat ein Kind. Sie ist seit dem Tod der Mutter die Einzige gewesen, die sich um die Kinder gekuemmert und gelegentlich etwas gekocht hat und ihnen Geld fuer Medikamente gab. Ich frage sie nach den Eltern von Andy und Mogli. Sie sagt, der Vater sei 48 und ein Bauunternehmer mit bescheidenem Wohlstand gewesen. Waehrend eines Projektes nahe der sudanesischen Grenze bei Metemma sei er an Gelbfieber erkrankt und sehr schnell gestorben. "Frau Messay musste dann aus dem Haus in Adet (40 km von Bahir Dahr) ausziehen, weil das Geld nicht mehr reichte", sagt Frau Gadamu. Sie zog mit ihren vier Kindern nach Bahir Dahr. "Sie war sehr fleissig und gut organisiert. Staendig buk sie Brot oder Indschera, kochte Tee und verkaufte alles zur Strasse hinaus. Aber sie verwand den Tod ihres Mannes und die Armut nicht und wurde immer schmaler." Und so habe ich die Mutter im Dezember 2003 im Krankenhaus auf meinem Arm getragen: abgemagert und voellig entkraeftet. Es gibt wenig Krankheiten, die die leistungsfaehige Elterngeneration der Zwanzig- und Dreissigjaehrigen derart dahinrafft und Aids ist die wahrscheinlichste Ursache dieser Familientragoedie. Diese Annahme wuerde auch erklaeren, warum man die Mutter damals den ganzen Tag hat im Warteraum des Krankenhauses sitzen, dann auf dem Fussboden liegen lassen, bis sie am Abend starb. Denn Aids ist nicht heilbar und wird daher fast nie behandelt. Es sind sowieso nicht genug Medikamente da und eine Triage ist in aethiopischen Krankenhaeusern kein Ausnahmefall, sondern Alltag. (Triage, franz.: aussondern; bezeichnet ein Auswahlverfahren an Patienten: 1. der kann warten, 2. der stirbt, falls ihm nicht sofort geholfen wird, 3. dem ist sowieso nicht mehr zu helfen. Die Triage wird eigentlich nur im Katastrophenfall verwendet, wenn fuer zu viele Opfer zuwenig Soforthilfe geleistet werden kann.) Auch Mike hat seine Mutter im selben Krankenhaus unter aehnlichen Umstaenden verloren. Niemand, auch nicht Frau Gadamu, spricht ueber Aids. Aids ist ein Tabuthema, denn es bringt andere Tabuthemen auf: Sexualitaet, Prostitution, Untreue, unglueckliche Ehen, Betrug, Krankheit. Man spricht nicht ueber Unangenehmes, denn: "Wem nuetzt das?" Aber eine Frau von 35 Jahren, die Verantwortung fuer vier Kinder traegt, stirbt nicht einfach an Kummer, schon gar nicht eine aethiopische Frau. "Bei der Beerdigung waren so viele Leute da, dass man denken konnte, eine reiche Person sei gestorben oder ein Politiker, dass haetten sie sehen sollen!" sagt Frau Gadamu. Ich frage sie, was sie mir raten wuerde, was das Beste fuer die Jungs sei. "Sie sollten nach Addis zur Schule gehen. Dort sind sie sicher, dort gibt es gutes Essen und sie koennen sich aufs Lernen konzentrieren. Sie haben die richtige Wahl getroffen." Gleichzeitig wundere ich mich, mit wie leichtem Herzen die Jungs alles hinter sich lassen: Bahir Dahr, ihre Freunde und Verwandten. Und mit welcher Freude sie dem Schulbesuch entgegensehen. Fuer mich, als deutschen Ex-Schueler, der mit Filmen wie "Hurrah, die Schule brennt!" und herabsetzenden Begriffen wie "Penne" und "Pauker" aufwuchs, der Lehrer provozierte und zu veralbern versuchte und Unterrichtsboykotte mittrug, ist es immer wieder erhellend, wie sehr sich Afrikas Kinder nach Schule sehnen. Mike erzaehlt mir dazu, dass man im einzigen aethiopischen Fernsehsender mal einen jungen Mann fragte, was er sich wuensche. Der antwortete, er habe zwar Arbeit, aber er koenne weder lesen noch schreiben, er habe nie eine Schule besucht und er wuensche sich, einmal das Gefuehl zu geniessen, einen Schulweg zu gehen, zu sehen, wie es waere, morgens aufzustehen und von zu Hause zur Schule zu gehen. So was haut mich immer wieder um. Ich bin beschaemt wegen meiner verwoehnten, gedankenlosen Einstellung, ein so hohes Gut wie den Zugang zu Bildung fuer nicht nur selbstverstaendlich, sondern gar laestig gehalten zu haben. Es ist sehr menschlich, das, was man schon hat, schnell fuer selbstverstaendlich zu erachten. Daher ist es gut, daran erinnert zu werden, dass Bildung kostbar ist. Das Lehrer zwar bezahlt werden, aber ein guter Unterricht von gegenseitigem Respekt erzeugt wird und selbst ein guter Lehrer nur so gut sein kann, wie es seine Schueler zulassen. Frau Gadamu weiss, wo die Mutter beerdigt wurde und ich bitte sie, mit mir und den Jungs zusammen dorthin zu fahren. Im Vorwort zum Buch "Das Auge des Leoparden" von Henning Mankell: "Afrika war mein Traumland...Als ich etwa 20 war, reiste ich nach Westafrika. Damit endete die Vorstellung des kleinen Jungen, und es begann die Reise des Erwachsenen. Von da an wusste ich, wie wichtig es ist, eine gewisse Distanz zu Europa zu haben. Ich glaube, Afrika hat mich zu einem besseren Europaeer gemacht." geschrieben am 6.2. in Krefeld
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