10/15/2005 Aethiopien / Bahir Dahr
Siyoko, Tokolosch und Zombie
Letzter Tag in Bahir Dahr
(Harald) Die Jungs schlafen die letzten beiden Naechte mit mir im Hotel. Ich wollte sie nicht mehr in den winzigen Verschlag lassen, der ihr Zuhause war. Um 7 Uhr morgens gehe ich zur groessten Kirche der Stadt, die in der Naehe meines Hotels steht. Heute ist ein kirchlicher Feiertag und Andy und Mogli wollen beten. Draussen an der Kirche, vor einer bunten Allegorie, sprechen sie ein kurzes Gebet, kuessen das Bild. Rings um die Kirche stehen hunderte von Frauen und Maennern, nur wenige Kinder. Die Glaeubigen sind in ihre besten Kleider gehuellt: Schemmas. Dieser Oberbegriff bezeichnet weisse, einlagige Baumwollschals und togaaehnliche Tuecher, Naetellas genannt, sowie zweilagige, die Gabis genannt werden. Viele lesen halblaut in der Bibel, wobei manche vor- und zurueckwippen, wie es orthodoxe Juden tun. Die meisten stehen einfach stumm zwischen den Bueschen und Baeumen, als warteten sie. Die Frauen halten sich im Hintergrund, waehrend die Maenner nach vorne an die Kirchenmauern treten und diese kuessen. Sie kuessen die Eingangsstufen, die Tueren, Fenstersimse, ja sogar die Mauern, die den Park umgeben. Sie legen ihre rechten Haende an die Mauern, als durchfloesse sie eine naehrende Kraft daraus, sie lehnen ihre Stirn an die Saeulen vor dem Eingang. Drinnen singen die Priester, tragen eine Heiligenfigur bis zum Eingang, die mit einem goldschimmernden Baldachin ueberdacht wird, der von zwei Priestern gehalten wird. Und die allermeisten dieser Glaeubigen, dass kann man als gesichert annehmen, glauben in vergleichbarer Intensitaet an Zauberei, an Flueche und Schamanen und Daemonen. Und auch dabei aehneln sich die Kulturen in Amerika und Afrika, denn was z.B. den nordamerikanischen Sioux der Ciciye oder der noch gefuerchtetere Siyoko war, eine Art Untoter und Kinderschreck, das war z.B. den Zulus der Tokolosch. Hollywood bedient die Zivilisation mit Ersatz: Dracula, Werwoelfe, Frankenstein und Zombies, sind nichts anderes als Varianten solcher Archetypen und "Herr der Ringe" und "Harry Potter" befriedigen unsere eigene Lust an der Irrationalitaet. Ich habe eine Liste aller Verwandten erstellt, von denen die Kinder, Frau Gadamu und Tiraku wissen. Sollte das Projekt "Schule" in Addis nicht funktionieren, soll den Kindern auch eine Rueckkehr nach Bahir Dahr moeglich sein. In meinem Stamm-Netcafe habe ich einen Kontakt mit dem Inhaberehepaar aufgebaut. Sie heissen Martha und Fekadu und moechten mir helfen. Fekadu hat mir angeboten, uns Drei morgen in seinem Wagen mitzunehmen. Ich habe das dankbar angenommen. Am Abend grosse Verabschiedung von den Strassenjungs. Die holen mich noch mal aus dem Bett, weil sie ein Foto mit mir und allen Akteuren an der Kirche machen moechten. Wir muessen vorsichtig sein, denn die naechtlichen Polizeipatrouillen sind dieser Tage nervoes. Einheiten der Geheimpolizei aus Addis in grau-blauen Overall-Kampfanzuegen, mit armlangen, schwarzen Schlagstoecken und Maschinenpistolen oder Kalaschnikows bewaffnet, streifen 24 Std. am Tag durch die Strassen und zerstreuen jeden Ansatz von Versammlungen. Bahir Dahr gilt als Widerstandshochburg und die Polizei fackelt nicht lange. In der Nacht hoert man Schuesse und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich panisch rennende Menschen. Die Polizei kann praktisch machen was sie will, solange sie der Regierung dient. Um solche Repressalien auszuueben, braucht man ortsfremde Einheiten, denn die heimischen Polizisten befuerchten Racheakte am Tage X. Abschied vom Lake Tana, an dem Mike, die Jungs und ich einen letzten gemeinsamen Nachmittag verbracht haben. Wir haben uns an die Uferboeschung des Tana-Hotels gesetzt, Cola getrunken, fotografiert und viel gelacht. Abschied von Bahir Dahrs Strassen, vertrauten Geschaeften, Cafes und Strassenhaendlern. Und zuletzt Abschied von Mike, dem ich noch Geld gebe und ein paar neue Schuhe gekauft habe, denn die alten fielen ihm von den Fuessen. Mike umarmt mich, dann verschwindet er im Halbdunkel der Strasse. Inschrift am Apollo-Tempel in Delphi: "Erkenne dich selbst." geschrieben am 9.2. in Krefeld
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