Home Page english version deutsche Version

  Worum es geht...
  Highlights der Reise
  Ueber Harald Radtke
  Zeitungsartikel

  Tagebuch (952 Eintr.)
  Lesermeinungen
  Leseproben
  Reiseroute
  News Archiv

  Pamphlet zur Faulheit

  Laenderinformationen
  Literatur

  Kontaktformular
  Mediainfo/Fotos
  Impressum


Reisetagebuch

10/17/2005   Aethiopien / Addis Abeba

Eine Reise, eine Flucht, eine Odysse

Mit den Jungs in Addis

(Harald) "Ein Reich des verlorenen Wissens: Darum, was es heisst, ein Teil der Welt zu sein und nicht ihr Feind." R.M. Pirsig, oesterr. Professor u. Autor

Morgens klopft Mogli an die Tuere: "Harry? Aendemenae aedirrk!" Guten Morgen Mogli. Da sind zwei Jungs und die brauchen mich. "Daenaner?" Wie gehts? Ein gutes, neues Gefuehl.

Ich stehe auf und oeffne. Molugetta steht strahlend vor mir. "Ist Abusch auf?" gestikuliere ich. Das ist Andargatschus Nick- und Strassenname, Molugetta heisst Tschutschu.

Molugetta nickt.

"Breakfast!" verkuende ich.

Um die Ecke gibt es ein kleines Cafe, in dem Angestellte und Beamte an runden Bistrotischen ihre Zeitung lesen oder einen schnellen Macchiato beim Smalltalk geniessen. Tupierte Frisuren ueber reichlich geschminkten Gesichtern, farbige Kunsthaarperuecken, Ledergeruch von steifen Handtaschen, schwere Parfuems und zuviel Rasierwasser, Rascheln synthetischer Stoffe, Knattern der duennen Zeitungsblaetter, Zischen der Espressomaschine, Duft von Kaffee und Fettgebackenem mit Zuckerglasur. Ein alter Bettler streckt stumm seine zaghafte Hand in die offene Tuere und wird vom Kellner weggewedelt. Ich druecke Mogli eine Muenze in die Hand und er gibt dem Alten das Geld vor dem Fenster. Ein quengelieges Einzelkind mit nervoeser Mutter. Sobald die ganze Sorge sich bei einem Kind komprimiert, ist es vorbei mit der angenehm-zurueckhaltenden, unauffaelligen Eigenheit afrikanischen Kinder. Nie habe ich so klar gesehen, wie sehr die Kinderzahl in Zusammenhang mit deren Charakter steht. Etwas zu erleben ist wesentlich eindruecklicher, als es nur zu wissen.

Wir reden, so gut es geht, Andy spricht ein paar Brocken Englisch. Da er das kaum in der Schule gelernt hat, ist dies wohl Ergebnis seines Umgangs mit den Touristenguides. Ich erklaere das vor uns liegende Programm: Besuch der Schule in Akaki, neues Hotel suchen, Geld bei Western Union abholen, Leute kennenlernen im Internetcafe, Besuch im Krankenhaus, Medikamente besorgen. Mogli hat einen hartnaeckigen Pilzbefall auf der Kopfhaut, den wir in Bahir Dahr nicht mit medizinischer Creme und einem Glatzenschnitt wegbekommen haben und Andy einen anderen Befall am ganzen Koerper, der furchtbar juckt und ihm den Schlaf raubt.

Die Rezeptionistin erklaert uns den Weg zum Alert-Krankenhaus und wir fragen uns an einer der zahlreichen Minibus-Taxistaende nach dem entsprechenden Wagen durch. Nach 20 Minuten Warten ist das Taxi mit 16 Fahrgaesten gefuellt und faehrt ab. Das waere eine gute Loesung fuer ueberstrapazierte Stadtkassen in der Heimat: Private Minibusse, die nur fahren, wenn sie voll sind. Wer weiss? Vielleicht kommt das auf deutsche Grossstaedte zu.

Das Krankenhaus ist eigentlich geschlossen, aber ich gebe nicht auf, weil ich einfach keine Zeit mehr habe nochmals wiederzukommen. Man schickt mich weg und ich gehe um die Ecke und versuche es nochmals, lande am Ende bei einem freundlichen Arzt. Woher diese Jungs kommen? Was ich mit ihnen mache? Ich zeige dem Arzt die Papiere aus Bahir Dahr und die Kinder erklaeren die Geschichte, die in Deutschland nicht rechtfertigen wuerde, mit fremden Kindern durchs Land zu reisen. Aber Andy und Mogli haben keinen "Erziehungsberechtigten".

Die Sekretaerin laechelt und sagt: "Sie haben grosses Glueck. Dieser Doktor ist Hautspezialist und der Beste in ganz Addis!" Der so Gelobte nimmt die Schmeichelei ungeruehrt entgegen und untersucht die Jungs binnen einer Minute. "Ganz einfach, ganz klar. Haeufige Erkrankungen. Molugetta muss Pillen nehmen gegen den Pilz, da helfen keine Cremes. Andargatschus Kleidung muss komplett gekocht werden und er muss sich jeden Tag duschen und den ganzen Koerper eincremen, er hat einen Milbenbefall, der durch schmutzige Lebensverhaeltnisse bedingt und von Mensch zu Mensch uebertragen wird." Er schreibt ein Rezept aus, schuettelt mir laechelnd die Hand: "Nein. Kein Geld. Sie tun etwas fuer die Kinder und ich helfe ihnen."

Die Rezeptionistin hat auch einen Kontakt zu einem Aethiopier hergestellt, der wiederum einen Italiener kennt, der Waisenkindern hilft. Ich treffe den Mann und den Aethiopier in der Lobby des Taitu-Hotels. Er heisst Francesco, ein grosser, fast hagerer Endfuenfziger mit grauem, langem Haar, spricht Amharisch, Englisch, Franzoesich, ja sogar etwas Deutsch. Wir sind uns auf Anhieb symphatisch. Von Anfang an versucht er mir die Schule in Akaki auszureden, da dort die amerikanischen Protestanten unterrichten und er den Jungs ihren orthodoxen Glauben erhalten moechte. Wir verabreden einen Besuch in einem Waisenhaus in der City.

Nachmittag.

Im "Cafe Raizel" geniessen wir bei Tschai und Orangentee Marmorkuchen, der hier als "English Cake" und Kaesekuchen, der hier als "American Cake" gilt. Dazu erklingt "Aranjuez" und mich ueberlaeuft beim Klang der Gitarre und der Violinen eine Gaensehaut.

Als wir danach die paar Schritte zur Piassa gehen, muessen wir an den Bettlerinnen mit den apatischen Kindern vorbei. Es ist ein offenes Geheimnis, dass manche dieser Frauen ihre Kinder mit sog. "K.O.-Tropfen" sedieren, damit die ueber Stunden ruhig bleiben und moeglichst leidend aussehen. Im Gegensatz zu den Bettlerinnen in Europa muessen sich Aethiopiens Bettlerinnen jedoch keine Babys in der Verwandtschaft ausleihen, denn diese Frauen vom Land- ihre braune, grobe Sackleinen-Kleider, die dunkelgruenen Decken und der Haarschnitt verraten ihre Herkunft- haben meist mehrere Kinder. Ueber die Angabe, man habe 10 Kinder, wundert sich hier niemand, erst ab ca. 15 schuettelt man vielleicht den Kopf und einer Angabe, man habe 20 Kinder geboren, wird geglaubt. Wenn Muetter dann mit einer Huette voller Kinder als Aidswitwen zurueckbleiben, findet sich selten ein Mann, der diese Grossfamilie zu ernaehren bereit ist.

Das Land ist voller Kinder. Waehrend bei uns die Gesellschaft in mancher Hinsicht ueberaltert, ist es in Afrika genau umgekehrt und Aethiopien liegt trotz Aids, Malaria, TBC und Kindersterblichkeit, immer noch in der Spitzengruppe der Laender mit der staerksten Bevoelkerungszunahme. Die Region der Afar, einem Stamm des noerdlichen Hochlandes, ist die mit der weltweit hoechsten Kindersterblichkeit: 12 von 100 Kindern sterben vor dem fuenften Lebensjahr- auch wg. der Beschneidung der Maedchen.

Die Bettlerinnen haben sich sackleinerne Unterlagen geschaffen, auf die manche noch frisches Gras streut. Das dazu verwendete, feinblaettrige Gras, wird traditionell zu allen festlichen Anlaessen auf dem Boden, auf Theken und in Eingaengen ausgestreut. Keine Kaffee-Zeremonie findet ohne diese Dekoration statt.

Am Abend schlafen die Bettlerinnen, in der Loeffelstellung mit ihren Kindern, auf diesen Unterlagen. Und es ist kalt. In den Schatten stehen stumm die Huren, suchen meinen Blick und zischeln mir ihre Lockrufe zu. Ich wuerde mich ihnen gegenueber gerne freundlich zeigen, aber jede Form von Reaktion wuerde fehlinterpretiert und so senke ich den Blick und gehe schnell vorbei. Diese Maedchen verkaufen sich fuer 5-10 EUR, alte Huren sind manchmal schon fuer weniger zu haben.

Mitten im Verkehr hat sich ein junger Mann zum Schlafen auf ein paar Plastiksaecke zum Schlafen gelegt. Sein ganzer Vorderkoerper ist derart verbrannt, dass er durch die gespannte Haut am Hals seinen Mund nicht schliessen kann und die ermuedete Zunge, die keinen Halt hinter den Zaehnen findet, ihm aus dem Mund faellt. Dadurch, dass offenes Feuer in ganz SSA das einzige Heiz- und Kochmittel ist, sind Verbrennungen sehr haeufig, die medizinische Versorgung unzureichend.

Taitu-Hotel. Die Jungs schlafen in einem Bett. Ich sitze in den gruenen Gestell-Sesseln und trinke ein selbstgemischtes Radler, sinniere. Ein Buch schreiben. Ich bin so voll mit Erlebnissen, Eindruecken. Ein Buch Marke "engagierte Literatur" klagt Missstaende an. Bestenfalls mit Wumm, schlimmstenfalls laecherlich. Ein Buch ueber eine Reise, eine Flucht? Flucht ist nicht nur weglaufen, sondern auch ankommen. Ein Buch ueber Afrika, dass man nur verstehen kann, wenn man seine Geschichte versteht. Geschichte treiben heisst Bruecken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen und an beiden Ufern taetig sein. Vergangenheit und Gegenwart fliessen dann in eine Lebenswirklichkeit zusammen. Ich will nicht in die Vergangenheit fluechten, sondern mich durch deren Reflektion entschlossen auf Gegenwart und Zukunft konzentrieren. Afrika verstehen heisst, nicht blind zu sein fuer das Erbe der Vergangenheit, von der alles gepraegt ist und mit der man gegenwaertig leben muss.

Meine Reise war, ja ist, eine Odysse. Eine Geschichte von Aufbruch nach Abbruch. Eine Reise vorwaerts, rueckwaerts und angekommen am Ziel, ist dieses laengst so veraendert, dass seine Erreichung fast nebensaechlich war. Das Kapstadt, das ich wiedersah, war nicht mehr das meiner Erinnerung und Vorstellung. Die Griechen wussten, dass man zwar im gleichen, aber nie im selben Fluss baden konnte.

geschrieben am 17.2. in Krefeld


 


  Team Login

© biketour4goodhope