Home Page english version deutsche Version

  Worum es geht...
  Highlights der Reise
  Ueber Harald Radtke
  Zeitungsartikel

  Tagebuch (952 Eintr.)
  Lesermeinungen
  Leseproben
  Reiseroute
  News Archiv

  Pamphlet zur Faulheit

  Laenderinformationen
  Literatur

  Kontaktformular
  Mediainfo/Fotos
  Impressum


Reisetagebuch

10/18/2005   Aethiopien / Addis Abeba

Babylon, Babylon

Von Doppelwaisen und Brain-Drain

(Harald) Meine Erledigungsliste umfasst immer noch 18 Punkte.

Mogli nimmt meine Hand wo er nur kann. Er ist um mich herum, nahe bei mir. Ich bin mir anfangs nicht sicher, ob er das macht, weil er denkt, dass mir das gefaellt. Vielleicht spuert er meine Muedigkeit.

Andy ist eher der zurueckhaltende Gentleman, immer beflissen, hoeflich, stets seinen wibbeligen Bruder ermahnend. Aber trotz dieses bruederlichen Zwistes sind die beiden unzertrennlich.

Wir treffen Francesco im "Raizel". Er spendiert Gebaeck und Macchiato und geht mit uns dann zu einer Schule. Hier lernt eines seiner Adoptivkinder. Ein Maedchen um die 10 stuermt auf ihn zu, kuesst ihn, wendet sich mir zu und drueckt auch mir, auf sein Geheiss hin, ein Kuesschen auf die Wange. Franco, wie ihn alle nur nennen, kennt in Addis eine Menge wichtige Leute und so wundert mich nicht, dass die Direktorin der Schule ihn begruesst.

Wir fahren zur Verwaltung der Seven-Days-Adventist-Church. Der Schatzmeister ist ein Afro-Amerikaner aus Bermuda namens Pearlman, Mitte Dreissig, seine Frau eine Polynesierin, ist Lehrerin in einer der Schulen. Mr. Perlman wurde eingesetzt, nachdem der letzte aethiopische Manager seine Kirche um erhebliche Betraege erleichtert und sich sofort abgesetzt hatte, als er aufzufliegen drohte.

Mr. Pearlman ist ein ruhiger, korrekter Mann, der mir Preistabellen fuer die grossen Ganztagsschulen der Adventisten zugaenglich macht. In Schaschemene, im Sueden, gibt es noch eine Schule, nur ist die fast genauso teuer, wie die in Addis. Selbst wenn die Jungs in Akaki aufgenommen werden: wo sollen sie bis zum Beginn des neuen Schuljahres im Februar bleiben? Ich muss eine Unterkunft finden.

Im Netcafe stelle ich die Jungs meinen Bekannten vor. Firejewott und Elias freuen sich die Jungs endlich kennenzulernen. Wir besuchen einen Freund von Firejewott, ich spreche mit einer Schuelerin namens Eleni und ihrer Mutter Likelesch. Die beiden haben sich die Muehe gemacht, fuer mich auszurechnen, was ein Hausstand fuer die Jungs mtl. kosten wuerde. Miete, Hilfe bei den Schularbeiten, Fahrtkosten, Kleidung etc.p.p. = 120 EUR- zu teuer.

Wir landen bei einer Organisation namens "Grace for all", eine Empfehlung der Direktorin des Adoptionsheimes "Centro Aiuto". Hier arbeitet eine junge Leiterin namens Eyerusalem. Die Frau ist Mitte Zwanzig und managed ein winziges Heim. Der Traeger dieses Heimes ist, wie sich herausstellt, ebenfalls eine amerikanisch-protestantische Organisation und der Leiter befindet sich in den USA. Hier wird Kindern zweimal taeglich eine Mahlzeit gegeben und sie werden bei den Hausaufgaben unterstuetzt. Nur eine Handvoll Kinder lebt ganztaegig in den engen Mauern des Heimes. Aber Eyerusalem zeigt mir ein freies Zimmerchen mit drei Betten: "Hier lebt nur ein Junge. Er ist 18 und kommt aus den USA. Ihre Kinder koennen hier wohnen."

Das Haus liegt nur 15 Minuten Fussmarsch vom Zentrum entfernt und verspricht fuer die Jungs wesentlich mehr Freiheiten als die Schule in Akaki. Ob das aber den schulischen Leistungen zutraeglich ist, bezweifle ich.

Wir suchen ein preiswerteres Hotel. Das "Ghibie-Hotel" hat eine Bar und einen Tuersteher, der aussieht, als ob er den letzten Bus verpasst haette. Meine knappe Kasse zwingt mich jedoch zu Zugestaendnissen an Komfort und Aesthetik.

Am Abend beginnt der lange Reigen aus Alkohol, Musik, Singen, Balzen, Tanzen und Sex. Wenn die Maenner genuegend intus haben, groelen sie mit Tedy Afro vom Untergang von "Babylon, Babylon" und meinen die USA. In deren Kriegen gegen den Irak sehen sie die Hybris einer dem Untergang geweihten Zivilisation.

Dann machen sie die Nacht klar. Im Rausch legen sie den letzten Widerstand gegen das Gummi ab und wollen die Maedchern "pur". Jetzt holen sich Addis Freier den Virus oder geben ihn weiter und der Glaube, es gaebe schon irgendeinen Zauber, der einen heilen koenne, wenn einer wie sie sich dies finanziell leisten koenne, wird staerker als die Vernunft. Und ueberhaupt: die Weissen haben diese Krankheit ja vielleicht auch nur erfunden, um ihre teuren Medikamente zu verkaufen. An TBC ist man schliesslich auch schon frueher gestorben. Und wer ist nach dem Geschlechtsverkehr schon tot umgekippt? So schlimm wird es schon nicht sein. Und es gibt ja noch die Zauberer, noch letzte Woche habe ich doch dieses Flugblatt gesehen, wo einer Heilung anbot. Und wenn alle Stricke reissen, gibt es ja noch dunkle, verbotene Riten und wenns sein muss, wuerde man...Lieber kurz und intensiv. Spass muss sein. Mich wird es schon nicht treffen.

Es rafft die wichtigste Generation in Afrika dahin und es laesst Waisen zu Hunderttausenden, ja Millionen zurueck. Es zerstoert die Wirtschaft, weil es an qualifizierten Arbeitskraeften mangelt. Es fleddert Familienverbuende, schafft Doppelwaisen. Was das ist? Das sind Kinder, deren Eltern starben, die danach zu Verwandten kamen, die dann ebenfalls starben.

Aids toetet die Reichen und die Schoenen, die Gebildeten und die Hoffnungstraeger der Nationen. Wer dem Land nicht im "Brain-Drain", dem Abwandern ins reiche Ausland, verloren geht, der sucht sich oft groesstmoeglichen Spass in den deprimierenden Grossstaedten der Heimat. Luxus kaufen, Filme gucken, Essen gehen, teure Autos und Sex. Wozu sonst ist das "moderne" Leben gut?

In solch einer Umgebung hat Weltliteratur Marke "Goethe und Dostojewski" keinen Aussagewert. Wieviele Aethiopier koennen sich an einem Background aus Europa delektieren? Griechische, roemische Mythen, Hymnen des Veda, die Edda, die Illias? Die Leiden des jungen Werther? Wie es euch gefaellt? Im Westen nichts Neues?

Wer nicht versteht, dass Afrika sich seinen eigenen Weg bahnen muss, sollte sich dies vor Augen fuehren: unser kultureller Background ist Jahrtausende alt. Pythagoras, Heraklit, Platon, Sophokles, Sokrates, Plato, Aristoteles? Nie gehoert. Romantik in Afrika? Fehlanzeige. Aufklaerung, Rennaissance? Nie gewesen. Industriezeitalter? Bis heute nicht. Wird auf absehbare Zeit nicht passieren. Afrikas Tradition ist erzaehlt und erhebt keinerlei Anspruch auf Wahrheit. "Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe?" Nicht in Afrika. Wahrheit in unserem Sinne ist etwas Beweisbares, Wissenschaftliches und somit Nicht-Afrikanisches und wurde nach dem Altertum auch in Europa erst in der Rennaissance wiederentdeckt. Da es in Afrika keine Schrift gab, gab es keine Wortbeweisbarkeit und somit war am Anfang zwar das Wort, aber das Wort nie heilig. Nichts war "festgeschrieben". Regeln, Gesetze nicht nachlesbar. Auch die uns so wichtige Logik hat keine Wurzeln in Afrika.

Wahrheit und Luege haben in Afrika andere Stellenwerte. Wahrheit ist, was als Wahrheit empfunden wird. Wahrheit ist, was dienlich ist. Wahrheit ist, was ertraeglich ist. Niemand will sich durch Wahrheit ausserhalb seiner Gemeinschaft stellen. Eine Wahrheitsauffassung im abendlaendischen Sinne hat in Afrika keinen Halt.

Afrika hat etwas Fluechtiges, etwas Provisorisches. Das einzig Stetige in Afrika ist das Provisorium. Streben nach Qualitaet? Strenge Symmetrie? Etwas fuer Generationen Geschaffenes ist selten in Afrika.

Fuer das Verlieren in Sinnfragen ueber das Dasein hatte SSA keine freien Kapazitaeten. Selbstmord aus wertherscher Melancholie war in Afrika praktisch unbekannt- ein Indiz. Der Kontinent ist auch heute noch als "Der Dunkle", als "finster" zu vermarkten, weil es dort nie eine "Erleuchtung durch Aufklaerung" im Sinne von Kant oder Rousseau gab. Ein Kampf gegen Vorurteile, gegen Unwissen und Unmuendigkeit fand nicht statt, es gab keine "afrikanische Revolution von 1789".

Afrika wird seinen eigenen Weg gehen und ich bin mir gar nicht sicher, ob wir nicht eines ratlosen Tages, wenn unser Leben sich nicht mehr wird so weiterfuehren lassen wie ehedem, dort anklopfen werden und fragen: "Wie, bitte schoen, wuerdet ihr das machen?"

Sie laecheln? Wenn ich eine unsolidarisierte Ellbogengesellschaft von lauter Olympiasiegern wie in den USA anschaue, dann klingelt in mir "Ubuntu", das tief in der suedafrikanischen Xhosa-Tradition verwurzelte Solidaritaetsprinzip. Die Zivilisation USA hat ihren eigenen tiefverwurzelten Rassismus den zu 90 % ausgerotteten Indianern und den millionen von afrikanischen Sklavenabkoemmlingen gegenueber.

Und ich denke an "Mutu ni watu"- Mensch ist Menschen- was in kuerzestmoeglicher Form sagt, dass der Einzelne nur durch die Gemeinschaft lebt. In Deutschland wird uns immer wieder beigebracht, wie falsch Neid sei. Wir seien nicht so goennend wie die Amerikaner, die niemandem seinen Reichtum neideten. New Orleans hat bewiesen, dass dies eine Maehr ist. Neid kann eine boese Art sein nach Ausgleich und gerechter Verteilung zu verlangen.

Ich bin schon zu lange in Afrika. Mir sind seelische Schwielen gewachsen. "Ich schweife ab, wie es ein Mensch mit Grund zur Klage immer tut." George Bernhard Shaw, Autor

Den Jungs macht der naechtliche Laerm nichts aus. Sie schlafen in einem Bett, tief und zwinkern mich morgens froehlich an, wenn ich durch das Flurfenster in ihre Kammer schaue, ...

geschrieben am 22.2. in Krefeld


 


  Team Login

© biketour4goodhope