10/22/2005 Aethiopien / Addis Abeba
Auf einer Stufe
Ich bin taub. Ich habe keine Familie.
(Harald) ...dann wird geduscht. Morgens muss ich einen der jungen Rezeptionisten bitten, das Bad saeubern zu lassen, weil die Putzfrau dies seit Tagen nicht gemacht hat und sofort wird die Widerspenstige gezaehmt und zur Erledigung veranlasst. Ueberhaupt: bei diesen zwei Rezeptionisten scheine ich einen Stein im Brett zu haben. Frage ich nach Seife, bekomme ich zwei Stk., bitte ich um Handtuecher, gibt es gleich drei. Man gruesst mich wie einen alten Freund, ich kann sogar nachzahlen- was sonst voellig unueblich ist. Die beiden leben in einem winzigen Zimmerchen, in dem ausser fuer ein Hochbett keinerlei Platz mehr ist und der Vater des Einen ist jetzt auch noch vom Land gekommen, weil er krank und alleine ist. Nun schlafen die Drei im Wechsel- kein Problem bei je 12 Std. Arbeitszeit. Einzige Unterhaltung fuer den kranken Mann in dem fensterlosen Verschlag ist ein Kofferradio, aus dem rauschendes Amharisch klingt. Ich schuettle dem Mann die fieberheisse Hand und muss ihn fast gewaltsam aufhalten, weil er aufstehen will. So macht er selbst im Liegen eine Art Verbeugung und lacht hoeflich. Er braucht Medizin, hat aber kein Geld, er braucht Pflege. Kindern gilt stets helfende Sympathie, aber den Alten? Nachdem ich die Jungs ins Bett geschickt habe, gehe ich abends ins Taitu-Hotel. Nachrichten auf CNN. In den sog. "Weltnachrichten" ist eigentlich hautpsaechlich von den USA die Rede, sowie ihren Kriegen im Irak, Afghanistan und den geplanten gegen Iran und Syrien, sowie der Lage in Israel. Daneben Kampf gegen die Hydra des Terrors, der sie immer noch den Kopf abschlagen wollen, statt sie zu besaenftigen. Die videoclipartige Machart, das Infotainment ermuedet mich. Was fuer ein Unterschied zu den fast quaelend langsamen afrikanischen Nachrichten, mit fast stoisch wirkenden Akteuren! Wer solche CNN-Nachrichten dauernd sieht, bekommt eine sehr eingeschraenkte Weltsicht. Gestern abend sass ein junger Bettler direkt neben dem Hoteleingang. Auf einer Stufe vor einem Geschaeft, zurueckgelehnt an ein Ladengitter, bitterlich weinend, etwas, was man sehr selten in Aethiopien zu sehen bekommt, trotz der grossen Not. Aethiopier sind starke Menschen. Mit Stecknadeln ist ein computergeschriebener DIN-A4-Zettel auf sein Shirt an Ruecken und Brust geheftet. In Amharisch steht da: "Ich bin taub. Ich habe keine Familie." Der Junge ist nicht unterernaehrt, aber offensichtlich voellig vereinsamt. Er kann nicht kommunizieren, denn er beherrscht keine Gebaerdensprache und selbst wenn- wer wuerde die verstehen? Er kennt hier in der Fremde keine anderen Gehoerlosen, denn die sind nicht zu finden, weil unorganisiert. Er kann sich nicht mitteilen und er kann keine Lippen lesen. In seiner ewigen Stille muss die Einsamkeit noch groesser sein. Ich bitte den Internetcafebesitzer von nebenan, einen freundlichen Moslem, der mir sogar schon mehrfach einen Nachlass gab oder gar kein Geld verlangte, wenn er den Grund fuer meine vielen Telefonate mitbekam, den Text zu uebersetzen. Er sagt, solche Bettler gaebe es zu tausenden. "Nein, dieser ist taub. Und selbst wenn: der hier ist eben jetzt hier, nicht die tausenden anderen. Und ich habe, seitdem ich im Land bin, nicht einmal einen Bettler weinen gesehen." Der Netcafebesitzer gibt einen Birr und geht, nachdem er mich mich nicht hat davon abhalten koennen, 3 Birr zu geben- umgerechnet nur 30 Cent EUR. "Sehen sie die anderen Bettler? Die werden ihm das Geld wieder abnehmen, wenn sie soviel geben!" Vielleicht weint der Junge auch deshalb. Ich kaufe eine kleine Rolle Hip-Hop-Kekse beim Fliegenden Haendler vor dem Hotel und setze mich neben den Jungen auf die Stufen, stumm. Ich gebe ihm ein "Tischu", ein Papiertaschentuch, der Schnodder laeuft ihm uebers Kinn. Sein Schluchzen hoert auf, er kaut stumm, apathisch, schaut mich nicht an. Ich sitze, einfach gesellschaftend. Aushalten das Leid. Er hoert auf zu Weinen. Wie betaeubt stiert der Junge ueber die Daecher auf der anderen Strassenseite. Jetzt halten Passanten an. Ein Ferendschi auf der Strasse sitzend, neben einem Bettler? Was steht auf dem Zettel? Ich kruemmle Kekse. Ein junges Paar, gutes Englisch. Wieso ich hier sitze? Na, mir gehts schlecht, ich hab ein Schluchzen im Hals, mir engt die Brust, mir brennen die Augen, mich jammert das hier, ich halte diese, eure Gleichgueltigkeit nicht aus und werde wuetend auf diese Scheissregierung, die sich einen Dreck um das Heer von Bettlern schert, diese Selbstgerechten in ihren fetten Karren, den Bettlern fast ueber die Fuesse fahrend auf dem Weg zum naechsten Bankett. Mich erschuettert die nette UN-Angestellte, eine Franzoesin aus New York, die mir gestern im Taitu-Hotel sagte, sie gaebe den Bettlern nichts, weil man ja doch nicht allen geben koenne. Ich hab ihr gesagt, dass die kleinste, silbrige Muenze, ein Viertel Birr, jedem Bettler ein Laecheln zaubert und das man selber laecheln muss, wenn man das tut und das nur 10 Birr, also ein enziger Euro, somit 40 Laecheln kauft. Ich meine- 40 mal angelaechelt zu werden ist doch auch was wert und sehr billig. Warum ich hier sitze? Z.B., weil jetzt bereits 20, 30 Leute hier stehen und die Hemdtasche des Jungen mit Birrscheinen sich fuellt und seine Hand auch. Das sollte ich jeden Abend machen, mich zu so einem setzen, denn wann sonst gibt ein Addissi sonst einen ganzen Birr? Und dann kaeme garantiert das Fernsehen frueher oder spaeter und man koennte mal oeffentlich fragen, wie christlich so eine Gesellschaft ist, diese ganze Froemmelei, wenn die zentrale Botschaft so wenig beachtet wird. Vor jedem Restuarantfenster stehen sie doch und starren dir aufs Croissant, auf die Pommes. Ich flieg ja bald ins Paradies zurueck, ich hab nen Pass zum Sonnenoberdeck dieses gigantischen Passagierdampfers namens "Erde", der durchs All rast, titanicmaessig gesehen. Wenns eng wird, klimamaessig z.B., wird die Erste Klasse gerettet. Ich stehe auf und gehe weg. Ich muss mich fangen. Nie zuvor habe ich einen solchen Moment erlebt. Ich ermahne mich stumm: was reg ich mich auf? Hab ich mich vor der Reise gekuemmert? Wenig, sehr wenig wohl. Der Unterschied ist: ich bin hier, das ist nicht Fernsehen, ich hab das nicht gelesen, nicht ein Foto angeschaut. Es ist kalt, die Steinstufen sind hart und es riecht nach Pisse. Menschenrechte. Ich fuerchte ehrlich gesagt, dass wir Afrikaner erschiessen koennten, wenn sie einzudringen versuchen nach Europa. (Einige Wochen spaeter erfahre ich, dass dies tatsaechlich in Ceuta passiert ist). Es waere unser Recht unser Land zu "verteidigen", wenn jemand ohne Visum einzudringen versucht, wenn er sich einschleicht oder ueber Zaeune klettert. Jedenfalls nach unserem Recht. Aber ist das Menschenrecht? Ohne Visum kein Zutritt. Ohne Geld kein Visum. Die Armut bleibt draussen. Umfasst Menschenrecht nur bestimmte Staaten? Wir brauchen einen Welt-Sozial-Plan. Unser Erdenschiff einen definierten, erklaerten Kurs. Das Leid ist nur noch fuenf Flugstunden entfernt, oder einmal umschalten, einmal anklicken. Diese Restaurantfensterscheiben sind wie unsere Grenzen, unsere Fernsehprogramme, durch die man auf unsere Tische schaut, tief in unsere Gesellschaften. Als ich gg. Mitternacht zum Hotel zurueckkehre, ist der Gehoerlose verschwunden. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. geschrieben am 22.2. auf dem Oberdeck
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