9/11/2002 Jugoslawien / Negotin
Der Stich des Skorpions
Die Kettendreher in der serbischen Provinz/ Ein Fruehstueck auf dem Pass/ Maus-sitting
(Harald und Renata) Wir verlassen Belgrad im schoensten Sonnenschein. Ueberhaupt- wir haben bisher viel Glueck mit dem Wetter gehabt, idealer kann Radlerwetter kaum sein. Wir schwitzen und trinken Unmengen. Von Belgrad fahren wir Richtung Kotin ueber eine Bundesstrasse. Die Abgaswolken verursachen uns Kopfschmerzen. Hinter einer Tankstelle machen wir Rast. Man hat irgendeine Fluessigkeit hangabwaerts gekippt und alles Gruen ist restlos verseucht und braun. Die Strasse nach Smederova ist so gerade, die Landschaft so eintoenig, dass wir uns Gedichte erzaehlen, um uns abzulenken. Im Dorf Bavaniste kaufen wir vom Fuhrwagen eine Wassermelone. Ein Junge beobachtet uns und holt im Laufschritt sein Fahrrad, das er uebers Internet in Oesterreich gekauft hat. Er heisst Milos und begleitet uns bis zum Ortsausgang. Ich liefere mir mit ihm ein Rennen und dann ruft er: "Bis in zwei Jahren!" Renata weint kilometerlang. Wir uebernachten in Smederova im Hotel gleichen Namens. Es hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Ein Bankfilialleiter sagt: "Serbien(!) hat grosse Probleme". Er war, wie viele die wir treffen, in Deutschland. Jeder kennt hier jemanden, der in Aachen, Duisburg, Tuttlingen oder Nuernberg war. Abends gehen wir richtig Futtern. Renata moechte "einheimisch" essen. Und so gibt es leckere Bohnen, Gehacktes, Brot, Wein. Wir essen bis wir platzen und gehen anschliessend ins Kino. Bei 28 Grad fahren wir anderentags weiter nach Veli Gradiste, zelten auf dem Campingplatz. Und hier sind sie: die ersten WCs zum Stehen, bzw. zum Hocken. Beim Waschen umspringen uns Froesche, der Platz wird bewacht von einem riesigen Ganter namens Pedro und morgens huschen Eidechsen um unsere Fuesse. Mittlerweile lieben wir unser Zelt wie ein richtiges Zuhause. Die Landschaft wird gebirgig, dolomitenartige, weisse Felsen, schroff, teils bewaldet. Die Donau breit und ruhig wie ein See, mit kleinen Wellen, die der Wind formt. Nur vom Verkehr unterbrochene, herrliche Stille. Ich rufe Renata zu: "Halt mal an, da war was Interessantes, zwar schon tot, aber sehenswert." Am Strassenrand hinter Golubac liegt ein hellgraues Etwas, sieht aus wie eine Haselmaus oder Siebenschlaefer, mit grossen Fuessen. Fliegeneier kleben auf dem Tierchen. Aber es lebt noch! Ich gebe ihm Wasser, indem ich ihm ein paar Tropfen auf die Nase traeufle, die er mit einer winzigen Zunge aufleckt und belebt sich nach 10 Minuten etwas. In Renatas Lenkertasche nehmen wir es mit. Spaeter frisst der Winzling etwas Brot und schlaeft. Wir essen in traumhafter Kulisse an der Donau. Im kuehlen Schatten, direkt am Ufer, die traege Ruhe eines Spaetsommertages liegt in der Luft. Renata tauft die Maus "Seven", englisch fuer "Sieben"(-schlaefer). Seven muemmelt eine Pommes Frites-Stange, wobei er immer wieder vor Schwaeche seitlich umfaellt und schlaeft danach weiter. Auch das Geschaukel beim Fahren stoert ihn nicht. Wir schlagen erstmals unser Zelt neben der Strasse auf, auf einem Viehtriebweg, hinter einem Gatter. Seven hat sich erholt und selbst gereinigt. Wir lassen ihn in der Nacht frei- aber zunaechst umlaeuft er unser Zelt, klettert darauf. Erst spaet schlaegt er sich ueber einen Abhang in die Buesche, wie wir hoeren koennen. Mitten in der Nacht wachen wir auf- etwas umkreist unser Heim. Ich beruhige Renata- nur eine Maus oder so. Was man nicht glauben kann, wenn man es nicht selbst erlebt: Seven ist zurueckgekommen und will ins Zelt! Kaum drinnen, klettert er an mir hoch, setzt sich auf meine Schulter und schlaeft binnen 10 Sekunden ein. Und seitdem werden wir ihn nicht mehr los. Er schlaeft in der Armbeuge oder zwischen den Beinen oder in der hohlen Hand. Haette mir zuvor jemand erzaehlt, dass ein voellig wildes Tier, das wohl nie einen Menschen beruehrt hat, sofort ein so rueckhaltloses Vertrauen entwickelt, ich haette es nicht geglaubt. "Sieben" ist im Siebten Himmel, geht zwar seitdem nachts vors Zelt, kommt aber stets zurueck. Ploetzlich schreckt Renata auf- etwas hat sie gestochen. Es ist ein Skorpion! Ich wusste gar nicht, dass es die hier schon gibt. Das zwei Zentimeter grosse, dunkelbraune Tier ist zerdrueckt. Ich beruhige Renata, da der Stich eines so kleinen Exemplars voellig harmlos ist. Tatsaechlich juckt er dann auch weniger, als ein Mueckenstich. Aber wir sind gewarnt. In Donji Milanovic fruehstuecken wir. Als ich mir im Lokal die Haende wasche, knallt einer der angetrunkenen Maenner hinter mir die Tuere zu. Als ich sie wieder oeffne, blicken mich acht grimmige Mienen an, die tumben Gesellen haben gut was intus. Auf einem Hoehenkamm treffen wir zwei Deutsche aus Jena. Wir tauschen Infos aus: Wie seid ihr gefahren, wohin geht es, wie lange etc.? Dann faehrt jeder seiner Wege, weil Tempo und Vorstellungen selten zusammenpassen. Auf der Strecke gibt es Trinkbrunnen, die gut frequentiert sind. Waehrend wir uns waschen und die Wasserflaschen auffuellen, huepfen Froesche umher. Spaeter laeuft eine Griechische Landschildkroete ueber die Strasse. Auf der anderen Donauseite liegt Rumaenien, welches Renata meiden moechte. Zu gross ist ihre Angst vor "den Zigeunern". Meine Lieblinge sind es auch nicht, aber sie aengstigen mich nicht. Die serbische Donauseite ist jedenfalls landschaftlich schoener. Es geht aufwaerts und auf dem Kamm ist die Aussicht grandios. Wir wollen weiterfahren, aber ich kann nicht. So ein Fleckchen Erde, so schoen, dass mir das Herz wehtut- ich muss bleiben. Gruene Almen, Obstbaeume, Schafe, Kuehe, ca. 400 m unter uns eine Donauschleife. Der Bauer des Hofes in Golo Brdo laedt uns ein, auf der Wiese zu campieren. Wir trinken mit den Landarbeitern Slibowitz und Kaffee, bekommen Tomaten und eine Art salzigen, zwischen den Zaehnen quitschenden Mozarella geschenkt und Milch, warm und schaumig direkt aus der Kuh. Die typischen Fragen: Was kostet was in Deutschland, was verdient man usw.? Renata kennt das aus Polen. Wir untertreiben, um die Unterschiede nicht noch zu betonen. Wie arm man hier wohnt, keinerlei Luxus. Ich bin, auf nuechternem Magen, nach drei Glas voellig weg vom Fenster. Am Morgen ein Fruehstueck auf einem Stein in der Sonne- so lasse ich mir das gefallen. Eine Gottesanbeterin sitzt auf der Wiese, gruen und gross wie ein Mittelfinger. Beim Abschied geben wir 200 Dinar, etwa drei Euro und Renata verschenkt drei Kleidungsstuecke. Am gegenueberliegenden Ufer ist ein riesiges, baertiges Maennergesicht in den Fels geschlagen, wie in Mount Rushmore. Renata vermutet, dass es der in Rumaenien so verehrte Fuerst Vlad ist, auch Dracul genannt, der die Tuerken besiegt hat und dabei derart bestialisch vorging, dass er damit seinen Ruf als Blutsaeufer erlangte. Bei den Bergabfahrten zeigt der Tacho bis zu 65 km/h, kilometerlang singen die Reifen und der Fahrtwind kuehlt. An den Strassen erinnern Granitgedenksteine an die vielen Unfalltoten, deren in Jugoslawien so aufwendig wie sonst nirgends gedacht wird. Wir sehen frische Blumen, Kraenze auch an zwanzig Jahre alten Steinen. Ganze Familien hat es getroffen, manchmal vier, sechs Tote. Auf Strecken ohne Kreuzungen kann nur das Gerase schuld daran sein. Auch wir werden jeden Tag einmal von der Strasse gedraengt. Seven, unser neues "Haustier" und Mitreisender, schlaeft den ganzen Tag in der Lenkertasche, die wir mit einem Handtuch und zwei Hemden ausgepolstert haben. Immer wieder oeffnet Renata die Taschenklappe, drueckt die Hemdfalten auseinander, um das verschlafenen Kerlchen anzuschauen. Nachts wacht er auf, rennt umher, frisst Kekse, trinkt Wasser und versucht bei uns, an unseren Koerpern zu schlafen. Aber wir haben Angst, den Kobold im Schlaf zu erdruecken und stecken ihn wieder in die Tasche. Was haben wir schon gelacht ueber den putzigen Kerl mit den schwarzen Knopfaugen, wie pfiffig er jedes Stueckchen Futter findet, ueberall hochklettert, sich endlos putzt! Auf den Strassen liegen viele ueberfahrene Hunde, Fuechse, Waschbaeren. Das selbst in kleinsten Ortschaften niemand die verwesenden Kadaver wegraeumt, ist uns unverstaendlich. Hier liegt auch ueberall Abfall umher. An allen Strassen, in den schoensten Landschaften sehen wir Autowracks, die Gewaesser sind voller Plastikflaschen. Unbegreiflich, wie man eine solch herrliche Landschaft so vermuellen kann. Der Abfall und Bauschutt wird direkt vor der Tuere abgekippt, ersterer angezuendet. Qualm und Gestank begleitet uns hunderte von Kilometern. Hinter einem Dorf die diesbezuegliche Klimax: Ein Bach, rostbraun und schlammig und im allgegenwaertigen Abfall eine halbe, verwesende Kuh- wir muessen uns fast uebergeben. Mit sattem Rueckenwind sausen wir am Abend nach Negotin, fast hundert Kilometer lang war die Etappe. Im einzigen Hotel der Stadt kehren wir ein und handeln den Preis auf ca. 30 Euro runter. Endlich Duschen, Kleidung waschen. In der Nacht ist Jugoslawien Basketballweltmeister geworden. In Belgrad ein Jubel, wie bei uns nach der Fussball-WM. Das baut die Volksseele auf. Ich denke an 1956, Endspiel gegen Ungarn, nach unserem Krieg. Renatas Telefonrechnung schockiert uns. Voellig ausgeschlossen, weiterhin dieses Kommunikationsmittel zu nutzen. Heute winkt Bulgarien, Sofia in der Ferne.
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