3/8/2003 Israel / Petah Tiqva
Abu Rabia / 8.3. Zweiter Teil
Wir sind zu Gast bei dem Palaestinenser N. Alsoof, den seine Leute Abu Rabia nennen.
(Harald und Renata) Wir sind zu Gast bei dem Palaestinenser N. Alsoof, den seine Leute Abu Rabia nennen. Vor dem Haus begruesst uns mit Hndschlag ein Araber in einem einfachen, grauen Anzug, ein ruhiger, gepflegter Mann mit grauem Haar und Schnauzer. Im Besuchszimmer sitzen wir auf Stilcouchen, es wird Tschai serviert. David Nir spricht hebraeisch mit Herrn Alsoof und uebersetzt fuer uns. Abu Rabia erzaehlt in wohl gewaehlten Worten seine Lebensgeschichte, weil sie etwas ueber die Geschichte seines Volkes widergibt. Er wurde 1960 in Palaestina geboren (der Mann sieht aus wie Mitte Fuenfzig und ist juenger als ich, durchzuckt es mich!), erlebte, wie sein Vater willkuerlich 18 Tage in Polizeigewahrsam war und mit gebrochenen Rippen entlassen wurde. 1967 folgt der 6-Tage-Krieg mit anschliessender Deportation und Flucht nach Jordanien. 1971 geht die jordanische Armee gegen die bewaffneten Einheiten in den palaestinensischen Fluechtlingslager vor ("Schwarzer September"). Abu Rabia flieht nach Israel, wird dort zahlreiche Male verhaftet. Insgesamt 13 Jahre sitzt er in israelischen Gefaengnissen fuer seine politische Taetigkeit. Sein aeltester Sohn ist 17, sein juengster, vier Jahre alt, steht neben seinen Knien. Abu Rabia spricht langsam, wie muede, oft atmet er schwer durch, streicht sich mit der Hand durchs Gesicht, laesst waehrend unserer Fragen den Kopf haengen. Er erzaehlt, dass im Gefaengnis 10 Leute in einer winzigen Zelle einsassen, es kein Radio, kein Fernsehen gab, nur schlechtes Essen. 5-6-mal tritt er wegen dieser Zustaende in Hungerstreik, lebt von Wasser und Salz. Er kann seine Familie nicht sehen. Nach zwei Jahren wird er Sprecher der Gefangenen. Er ruft eine Intifada aus, die israelische Armee setzt Traenengas ein, als die Gefangenen singen. Er selbst muss in eine Klinik, die Doktoren behandeln schlecht. Ein Mann vom Roten Kreuz kommt in das Gefaengnis, sieht die Zustaende, aber er kann das, was er kritisiert, nicht aendern. Sein Dorf Hariz liegt im Sufi-Gebiet, mit 22 palaestinensischen Doerfern und etwa 50000 Einwohnern und genauso vielen juedischen Settlements. Auch hier wurden einige nach dem Vertrag von Oslo errichtet, dessen Endziel ja ein Palaestinenserstaat war. Gegenueber Hariz liegt das groesste juedische Settlement mit allein etwa 30000 Einwohnern. Abu Rabia organisiert Demonstrationen in seinem Dorf mit tausenden von Teilnehmern, ruft eine Intifada aus, nimmt Verbindung zu juedischen Friedensbewegungen auf. Bei den Demonstrationen gibt es Tote und Verletzte. Drei Jugendliche werden erschossen, der Gedenkstein vor der oertlichen Schule erinnert daran. 50 Demonstrationsteilnehmer werden verhaftet, die Armee faellt 1500 Olivenbaeume, sperrt den Ort von der Umgebung ab, schiesst Traenengas, wenn sich jemand auf den Daechern zeigt. Dann wird vor anderthalb Jahren sein Bruder Easa von einer Gewehrkugel in den Bauch getroffen, die verbotenerweise zu einem Dumdum-Geschoss umgearbeitet wurde. 12 Splitter holt man aus ihm heraus, eines hat das Rueckrat verletzt und seitdem ist der Mann gelaehmt und sitzt im Rollstuhl. Es folgen lange Klinikaufenthalte in Jordanien und in England. Abu hat Traenen in den Augen. Manchmal, sagt er, fragt er sich, ob er traeume, ob das alles wahr sei. Und dann werde ihm klar: ja, das ist die Realitaet! Manchmal hat er Angst verrueckt zu werden. Jetzt sind in Nablus im Norden alle Schulen geschlossen und sein Sohn kann, kurz vor Abschluss, die Pruefung nicht machen. Um mit seinem Bruder ins 50 km entfernte Ramallah im Sueden zu fahren, muss er eine Woche lang Vorbereitungen treffen und die Fahrt dauert einen ganzen Tag. Er braucht eine Genehmigung einer israelischen Behoerde, um den Ort zu wechseln, denn es ist den Palaestinensern nicht erlaubt, auf den Ueberlandstrassen zu fahren. Sie haben gruene und weisse Autokennzeichen und sind somit leicht von den gelben, israelischen zu unterscheiden. Drei Palaestinenser, die ein Krankenhaus besuchen wollten, wurden von Soldaten erschossen. Die juedischen Siedler schiessen auf die Wassertanks auf den Daechern, auf Autos und die Bauern, die in ihren Olivenhainen ernten. Ein Mann wurde so vor kurzem in der Naehe ermordet. Die Oliven sind die wichtigste Einnahmequelle der Bauern und seit Generationen wurden die Haine gepflegt. Jetzt trennen neue Strassen, die die Araber wegen der Zaeune und Mauern und Verbote nicht ueberqueren koennen, von ihren eigenen Hainen. Stattdessen werden die Haine dann zu "Sicherheitszonen" fuer die Settlements erklaert. Wir erzaehlen etwas von uns, von unserem Projekt. Dann fragt Renata, was Abu Rabia von den Selbstmordattentaten haelt. Abu Rabia sagt, er wolle Frieden, er sage seinen Leuten ("my people"), dass die Gewalt der palaestinensischen Sache nicht dienlich sei. Aber sie hoerten nicht auf ihn, denn der Zorn und der verletzte Stolz seien zu gross und Organisationen wie die Hamas, Dschihad, Hisbollah und Volksfront zur Befreiung Palaestinas faenden in diesem Klima immer wieder junge Leute, die das Leid ihres Volkes auf sich laden wollten und dann sich und andere toeten. Abu Rabia scheint kein Mann der Uebertreibung zu sein. Er gestikuliert nicht, waehlt keine stechenden Worte, polarisiert nicht, vereinfacht nicht, laesst statt Anklagen seine Erzaehlung im Raum stehen. Er beschreibt. Wir sind frei zu glauben, zu zweifeln. Sein Bruder wird auf seinem Rollstuhl in den Raum gefahren, ein Mann Mitte 30, mit wachem, klugen Gesicht und forschenden Augen. Still hoert er mit geneigtem Kopf zu, erst nach einer Weile nickt und laechelt er, wenn wir etwas sagen. Wenn ich die Beiden anschaue, sehe ich, dass sie einen hohen Preis fuer ihre Ueberzeugungen bezahlt haben. Abu faehrt Renata, Davids Sohn und mich durch sein Dorf. Die Strassen sind eigentlich unbefahrbar, mit tiefen Loechern uebersaet, von Graeben durchfurcht. Fuer die Verlegung der neuen Wasserleitungen kamen nur die Strassen in Frage, da es in den engen Gassen keine Buergersteige gibt und jetzt ist kein Geld da, um den Asphalt zu erneuen und hier am Berg spuelt jetzt das Regenwasser den Untergrund weg. Abu gruesst und wird ueberall respektvoll gegruesst. Wir fahren ueber einen felsigen Weg ins Nachbardorf, die Fahrt dauert 15 Minuten. Hier kann kein grosses Auto fahren, koennen keine Lasten transportiert werden. Die Fahrt ueber die Strasse da vorne haette zwei Minuten gedauert. Im Nachbardorf tritt ein alter Mann ans Autofenster. Er erzaehlt Abu, dass er gestern Olivenbaeumchen gepflanzt habe und heute Morgen einen Siedler dort antraf, der die Setzlinge wieder herausriss und ihm mit einem Gewehr drohte. Ein anderer Mann ist Beauftragter der Autonomiebehoerde und fuer das Agrarwesen hier zustaendig. Er laedt uns in sein Haus ein, aber wir lehnen ab, weil ja Delano und Nir auf uns warten. Wir verabschieden uns. Aus Abus Augen blitzt es erstmals freundlich, als er meine Schulter umfasst und uns – „no politics!“ - zu sich privat einlaedt. Wir sollen wiederkommen, er gibt uns eine Telefonnummer, falls wir Hilfe brauchen. Delano verabschiedet sich und David laedt uns zu einem Abendessen ein. Er erzaehlt, dass er Abu seit Jahren kennt und ihm vertraut. Erst spaet sind wir wieder in Leas und Ahrons Haus. Eine Nachbarin ist zu Besuch, die Atmosphaere angespannt. Wir spueren, dass unser Interesse an der anderen Seite nicht verstanden wird. Renata bremst die Diskussion, aber als die Nachbarin sarkastisch fragt, wie es uns denn bei den "Les Miserables" gefallen habe, sagt sie entschieden: "Das ist kein Spass, nichts zum Scherzen!" Aber man sagt halt, dass die Palaestinenser selber Schuld seien, wegen der Attentate. Mitgefuehl fuer die andere Seite ist nicht zu erwarten. Dafuer ist man vielleicht zu sehr involviert: "You should live here and you would understand!" Ja, kann sein. Spaet noch kommen vier Ehepaare zu Besuch, jeder bringt etwas zu Essen mit und eine entspannte Atmosphaere entsteht. Es wird absichtlich nur wenig ueber Politik gesprochen, ein Stimmungskiller, denn die Auffassungen sind sehr geteilt. Keiner der Maenner traegt eine Kippa, die kleine runde Kappe der glaeubigen Juden, wobei die Farbe weiss-blau die moderateren und schwarz die konservativeren Maenner auszeichnet. Die Gaeste, oder deren Vorfahren, kommen aus Jemen, Polen, Deutschland und Rumaenien. In Israel sitzt immer Geschichte mit am Tisch. Geschrieben am 13.3. in Petah Tiqva
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