3/23/2003 Ost-Jerusalem
Im Fluechtlingslager Deheysche
Wir besuchen in Bethlehem ein bekanntes Lager palaestinensischer Fluechtlinge
(Harald und Renata) Beim Fruehstuecksbuffet sitzen die Nonnen aus aller Herren Laender an einem Nebentisch. Dort wird viel gelacht. Mit zwei Slowakinnen kann sich Renata auf Polnisch unterhalten, der Rest spricht Englisch. Wir sehen afrikanische und asiatische Gesichter. Der Anwalt Sammy, Gast hier im Konvent und in Ramallah taetig, ist Oesterreicher, sein Vater ist Palaestinenser. Der Mann, Mitte Dreissig, ist sehr gut informiert und hat fuer uns eine Verabredung in Beth Lehem (hiesige Schreibweise) arrangiert. So machen wir uns frueh auf den Weg und lassen Kari bei dem Mutter-Tochter-Gespann aus Tel Aviv zurueck, das wir in den letzten Tagen kennengelernt haben. Die alte Dame ist 95 Jahre alt und seit den Dreissiger Jahren in Israel und beide wollen "den Krieg ueber" hier bleiben, weil sie Angst vor den Scuds haben. Wir gehen zur Busstation um die Ecke und besteigen ein Sammeltaxi mit zehn Personen. Alle Insassen sind Araber und jeder Araber ist hier, ob christlich oder moslemisch, Palaestinenser. Beth Lehem liegt ca. 20 Kilometer suedlich von Jerusalem, ist eindeutig arabisch, Teil der Westbank (wie Ostjerusalem auch) und hat etwa 175.000 Einwohner. Auf der Fahrt dorthin sehen wir aber wieder neue "Settlements", oben auf den Huegeln, es steht noch ein Kran mitten in einer der Neubausiedlungen, die sich, schmuck, hell, mit roten Ziegeldaechern und hohen Strassenbeleuchtungen, deutlich von den grauen Flachbauten der Stadt abhebt. Der Bus haelt an einem Checkpoint, alle Insassen steigen aus und gehen zu Fuss durch die Plastik- und Betonbarrikaden, vorbei an einem mit einem Tarnnetz ueberhaengten Wachturm. Wir werden kontrolliert und gehen dann zu einem Taxi. Der Fahrer fordert einen Touristenpreis, aber Sammy hat uns den ueblichen Preis genannt. Nach kurzer Fahrt ("Ah, Germans! Good! Schroeder good man..."), stehen wir an einer trostlosen Kreuzung. Es nieselt. Kurze Zeit spaeter steigt unsere Verabredung aus einem Privatwagen. Der Mann ist Ende Zwanzig, heisst Khaled und ist behindert. Durch eine Polioerkrankung (Kinderlaehmung) sind seine Beine verkrueppelt und er geht auf Kruecken. Er traegt eine blaue Pudelmuetze, ein Sweatshirt und einen kleinen Rucksack und sieht eher wie ein Tourist aus. Er fragt, ob wir die Geburtskirche sehen wollen, DIE Sehenswuerdigkeit hier. Aber wir sind eher am Camp interessiert. Khaled fuehrt uns durch das Camp. Von der Stadt ist es nur durch eine Strasse abgetrennt und unterscheidet sich aeusserlich nicht von der Stadt selbst. Es liegt auf einem kleinen Huegel, dichtgedraengt stehen die Betonhaeuser an den z.T. steilen Strassen. Die Optik ist uns aus Syrien bekannt. Auf der Hauptstrasse findet gerade ein kleiner Markt statt. Hier kennt Jeder Jeden und auch unser Fuehrer wird aus jedem Hauseingang heraus gegruesst. Khaled erklaert, wie schwierig die Versorgung hier ist, weil alle Strassen gesperrt sind. Und niemand hat Arbeit, die Arbeitslosenquote liegt im Camp bei ueber 90 %! Es gibt im Bezirk Beth Lehem ca. 3.000 schulpflichtige Kinder, mehr als die Haelfte der Campbewohner sind juenger als 16 Jahre. Diese vielen Kinder spielen in den Gassen um uns herum. Wir gehen zum IBDAA-Center, einem Kulturzentrum fuer die Campkinder, gegruendet 1994. Dort begruesst uns die Leiterin und erklaert uns die verschiedenen Taetigkeitsbereiche. Es gibt einen Kindergarten fuer 120 Kinder, eine Buecherei, mehrere Tanzgruppen, die traditionelle Taenze ueben, mehrere Sportteams, internationalen Austausch mit anderen Camps (z.B. Schattila im Libanon) und Gaestezimmer fuer Besucher des Camps, sowie eine mobile Buecherei, die auch mit Computern und Spielen ausgestattet ist und 12 umliegende Gemeinden anfaehrt. Das Camp wurde 1949 direkt nach dem Krieg gegruendet und sollte eine temporaere Einrichtung sein. Aber jetzt leben die Palaestinenser in dritter Generation hier und konnten, trotz entsprechender Un-Resolutionen, nicht in ihre Heimstaetten zurueckkehren. Hier leben auf etwa einem halben Quadratkilometer ca. 10.000 Menschen aus 45 Doerfern und Staedten, die teilweise ganz in der Naehe liegen, z.B. bei Jerusalem oder Hebron und trotzdem koennen die Bewohner nicht dorthin. Das Lager war bis 1995 von einem hohen Zaun umgeben und alle 14 Eingaenge bis auf einen waren geschlossen. Das Camp ist bekannt fuer seinen Widerstand, der sich auch aus der Frustration und dem Leid der Bewohner naehrt. Wir streifen durch das Lager. An den Hauswaenden kleben sonnengebleichte Plakate der hiesigen "Maertyrer". Das sind Kinder und junge Maenner und Frauen, die entweder von der israelischen Armee getoetet wurden, oder sich mit Sprengstoff in Tel Aviv oder anderen Staedten in die Luft gesprengt haben- nach israelischem Sprachgebrauch Terroristen, nach hiesiger Auffassung Kaempfer fuer die gerechte Sache. Man betrachtet diesen Kampf als Krieg gegen eine Besatzungsmacht und da man mangels Waffen und Macht keine Front eroeffnen kann, haelt man diese Form des Widerstandes fuer gerechtfertigt. An einer Hauswand haengt das Bild des 13-jaehrigen Kefah Khalid Abaid, der am 25.11.2001 von einem (verbotenen) Dumdum-Geschoss toedlich in die Brust getroffen wurde, weil er auf dem Nachhauseweg von der Schule ( er traegt noch den Tornister), Steine auf die Soldaten warf. Andere Bilder zeigen Maenner mit Gewehren und Granatwerfern, voller Patronenguertel. Khaled sagt, dass sei gestellt, weil sich jeder mal gut bewaffnet zeigen wolle. Im April 2002 suchte die Armee in der Westbank und speziell in den Lagern Kaempfer der Fatah-Organisation (Palaestinensischer Widerstand). Tatsaechlich gab es etwa acht aktive Maenner in Deheysche. Alle maennlichen Einwohner unter 40 Jahren wurden mit verbundenen Augen abgefuehrt, verhaftet und verhoert. Im Lager gibt es vormittags einen einzigen Arzt. Ist der nicht da, muss man warten, Schmerzen, Verletzungen hin oder her. Die Palaestinensische Selbstverwaltung (gedacht als Vorlaeufer einer eigenen Regierung) hat hier Volontaere eingesetzt. Maenner und Frauen arbeiten unentgeltlich um alles zu organisieren. Herr Abu Khalil Laham leitet das Camp. Wir begegnen ihm bei seiner Arbeit, das Buero ist voll. Sein sorgenvolles Gesicht spiegelt seine Lage wieder. Alle fragen, wuenschen, aber es ist nichts da. Man versucht durch Kontaktbueros in aller Welt Geld zu sammeln, z.B. um einen Spielrasen fuer Fussball u.ae. anzulegen, Neuankoemmlinge zu unterstuetzen und Medikamente zu bekommen. Alle Fluechtlinge haben einen Fluechtlingsausweis, sind aber nicht israelische Staatsbuerger, haben keinen israelischen Pass. Eine widersinnige Situation- sie leben seit jeher in diesem Land, anders als die allermeisten Israelis, wohnen, arbeiten hier, haben hier Grundbesitz, stehen unter polizeilicher und militaerischer Bewachung des Staates, haben aber keine staatsbuergerlichen Rechte. Am 28.8.2000 startete die noch heute andauernde Intifada, ein Aufstand der Jugend. Es wurden Steine geworfen, geschleudert (mit Steinschleudern wie zu Davids Zeiten) und Brandsaetze geworfen, sog. "Molotowcocktails". Ein Stein oder ein Brandsatz kann einen israelischen Soldaten toeten, dass ist kein Lausbubenstreich. In der Beth Lehem-Aerea starben bis Ende 2002 127 Palaestinenser, es gab ca. 2.500 Verletzte, 55 davon sind dauerhaft behindert, sowie etwa 5.000 Verhaftungen. Es wurden u.a. zwei 16-jaehrige Maedchen wg. Verdachtes auf Planung von Suizid-Bombenattentate verhaftet. Tatsaechlich hat sich eine 18-jaehrige bei einem Anschlag in die Luft gesprengt, dass Plakat zeigt ein huebsches Maedchen mit klugen Zuegen. 30 Maenner aus diesem Camp sind in Europa, weil sie nach Besetzung der Geburtskirche in Beth Lehem im letzten Jahr, verhaftet und ausgeflogen wurden. Im Laufe der Zeit wurden ueber 7.000 Gebaeude beschaedigt, 78 voellig zerstoert. Die Kosten dieses Krieges werden allein in diesem Bezirk auf ueber 160 Mill. Dollar geschaetzt, die Kosten fuer den Staat Israel nicht gerechnet. Siehe zweite Seite! Geschrieben am 28.3. in Ost-Jerusalem
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