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Reisetagebuch

3/23/2003   Ost-Jerusalem

Im Lager Deheysche

Zweiter Teil

(Harald und Renata) Khaled ist ein leidenschaftlicher Redner. Er fuehrt uns durch die Gassen: "Hier wohnt die Familie des Jungen auf dem Plakat- dort wohnte ein Mann, der durch eine herumfliegende Kugel durch sein geschlossenes Fenster getoetet wurde, dort wohnte das Maedchen, dass sich in die Luft gesprengt hat, da drueben wohnte der Mann, den ein Apache-Hubschrauber mit einer Salve aus dem Maschinengewehr getoetet hat, da lebte die Familie, deren Sohn sich in Tel Aviv in die Luft gesprengt hat..." So geht das Schlag auf Schlag, ein Register des Schreckens. Ich muss an mich halten, um nicht auszubrechen, denn jeder Anschlag hat viele Menschen getoetet und verstuemmelt. Besonders grausam war ein Anschlag in Tel Aviv, bei dem sich der Attentaeter vor einem Eingang zwischen Schlangen wartender Schulkinder gemischt hatte. Solch eine bestialische Tat zu verehren und als Mittel eines legalen Widerstandes anzusehen, uebersteigt unsere Bereitschaft, uns auf diese Seite einzulassen. Zwei Attentaeter hatten sich perfide abgesprochen: Der erste zuendete seinen Sprengstoff in einer Gruppe auf der Strasse, die Menge lief daraufhin weg und direkt in die Explosion des Zweiten hinein. Es liesse sich diese blutige Liste lange fortsetzen. Khaled beschreibt die Taten auch gestisch. Wenn er von den Explosionen spricht, ballt er seine Faeuste vor der Brust, reisst dann die Arme ruckartig in die Hoehe ("Bumm!") und seine Finger spreizen sich, der Kopf ruckt in den Nacken, der Blick geht zum Himmel. Er empfindet den Druck in seiner Brust, die unterdrueckte Wut, die Trauer und Verzweiflung, die Befreiung dieses Druckes durch die Explosion, den verletzten Stolz und wir haben das Gefuehl, er bewundert die Taten wirklich. "Was kann man sonst tun?" fragt Khaled. "Weiterleben", sagen wir. Nicht jeder Unterdrueckte nimmt sich das Recht zu solchen Taten heraus.

Wir koennen verstandesmaessig die Argumente nachvollziehen, aber den Schluessen nicht folgen.

Trotzdem koennen wir taeglich im Fernsehen verfolgen, wie die israelische Armee Kinder im Gaza oder der Westbank erschiesst, wie die sogenannten "Siedler" sich den Palaestinensern gegenueber benehmen, dass sie Waffen tragen und benutzen, als ob dieses Recht nicht in jedem modernen Staat ausschliesslich diesem selbst vorbehalten sein muesste. Die Unterschiede in der Kultur sind ueber die Stufen des Unverstaendnisses, Ablehnens, Nichttolerierens, zu der des Bekaempfens ausgewachsen. Und jetzt hat jede Seite aufgehoert, sich noch um Verstehen zu bemuehen, der Graben ist immer tiefer geworden, immer neue Opfer schaffen immer neue Taeter, die Eskalation geht weiter, der Horror kennt kaum noch Regeln oder Gesetze- auf beiden Seiten.

Wir koennen Khaled die "westliche" Sicht nicht recht nahe bringen. Argumenten gegenueber, die das Schicksal und die Historie der Juden betreffen, zeigt er sich unbeeindruckt, ob des Leidens seines eigenen Volkes. Zumindest ist aus einem Volk jahrhundertelang und allerorten Verfolgter und Misshandelter, jetzt eines von Verantwortlichen und Wegsehern geworden. Und man wundert sich, was eigentlich die eigene Geschichte gelehrt haben mag, ausser der Wahrnehmung eigenen Leides. Was konnten die Palaestinenser dafuer, dass der Strom der Juden nach Palaestina vor allem durch das Naziregime in Deutschland und Oesterreich in den Dreissiger Jahren, so stark wurde? Wer hat sie gefragt, ob sie mit einer Staatsgruendung auf ihrem Land einverstanden waren? Araber und Juden und Christen konnten zuvor weitgehend friedlich miteinander leben. Wer kann ihren Zorn nicht verstehen, wenn jetzt Massen (nicht verfolgter) auslaendischer Juden aus aller Welt nach Israel gebracht werden, die Platz auf dem Gebiet der Palaestinenser benoetigen und diese immer weiter verdraengen? (Obwohl wir leerstehende Haeuser und Wohnungen en masse gesehen haben, wollen viele lieber als "Siedler" auf billigem Grund in der Westbank leben.)

Von weltweit ca. 13 Millionen Juden leben etwa 6 Millionen in Israel, 1948 waren es etwa 600.000!

Mich erinnert diese Geschichte in weiten Zuegen an die der nordamerikanischen Indianer, deren Verdraengung sich zwar ueber einen laengeren Zeitraum hinzog, die aber ebenso hilflos um ihr Land, ihre Freiheit, Kultur und Leben kaempften. Ohnmaechtig mussten sie zusehen, wie sich eine (in westlichen Augen) erfolgreichere, modernere Zivilisation breit machte. Ob die Demokratien, der Kapitalismus tatsaechlich nicht nur tuechtiger und erfolgreicher, sondern auch gerechter und bewahrender fuer die Welt sein werden, muss sich erst noch erweisen.

Wir landen am Ende des Rundgangs auf dem Hof eines Schulgebaeudes, das, weiss-blau gestrichen und beflaggt, von der UN gespendet und errichtet wurde. Die Hauswaende ringsum zeigen noch Einschlaege grosskalibriger Waffen. Hier trainieren Kinder und junge Maenner Fussball. Khaled sagt, dass die UN den Fluechtlingen es schuldig ist, solche Einrichtungen zu schaffen. Und das er das Camp liebe, trotz allem. Trotzig sagt er das, er will uns beeindrucken mit seiner verblueffenden Logik. "Wir werden kaempfen bis zur Befreiung, die Freiheit wird kommen! Wir werden siegen und in unsere Doerfer zurueckkehren, wir werden der Welt zeigen, was Freiheit ist und wie man sie erlangt!" Ich haette nicht gedacht, dass Einer angesichts solcher Aussichtslosigkeit noch so reden koennte. Aber es zeigt auch, dass man an den Sinn des Kampfes glaubt, dass der Widerstand genug Kraft hat, um immer weiter zu gehen- trotz der rasch fortschreitenden Bebauung der Territorien, die offensichtlich versucht, vollendete Tatsachen zu schaffen (in der Westbank leben z.Zt. etwa 200.000 "Siedler"). Und wir erinnern, dass selbst heute noch, nach fast 60 Jahren, z.B. deutsche Fluechtlinge das Rad der Geschichte zurueckdrehen wollen, um in ihre ehemalige Heimat z.B. in Polen zurueckzukehren.

Renata kauft eine kleine Handtasche im Laden des IBDAA-Centers und auf den Strassen haben wir hier und dort etwas gekauft, um wenigstens ein bisschen Geld hier zu lassen. Wir wissen aber auch, dass nicht alle Gelder, die in den Palaestinensischen Gebieten landen, fuer die Entwicklung benutzt werden. Mancher Dollar aus Spenden z.B., wird fuer Waffenkaeufe zweckentfremdet. Ein bekanntes Problem von Embargen und auswaertigen Hilfen.

Wir verabschieden uns mit widerstreitenden Gefuehlen von Khaled. Wir werden dieses Land verlassen und wieder alleine lassen, mit seinen Problemen.

Es faehrt kein Taxi mehr zurueck nach Jerusalem, aber ein Privatwagen nimmt uns mit.

Das war ein anstrengender Tag, voller intensiver Gefuehle.

Geschrieben am 29.3. im palaestinensischen Teil Jerusalems


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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