12/4/2003 Aethiopien / Gonder
Mr. Hurrah-USA
Schattenseiten
(Harald und Renata) Schon in aller Fruehe gab es auf dem Hof der Belegez-Pension reges Treiben, denn hier stehen mehrere 4x4, die gewaschen, ausgeladen, repariert werden, wie in einer Garage. Individualreisende aus aller Herren Laender kommen hier unter, man informiert sich ueber Strassenverhaeltnisse, Grenzuebergaenge, Sehenswuerdigkeiten. Auch wir versuchen die kommenden Reiseabschnitte besser einschaetzen zu koennen. Jetzt geht es uns vor allem darum, wo wir die Grenze nach Kenia ueberschreiten sollen. Ich habe mich mit dem Ehepaar verabredet, das die Reiseagentur betreibt, die sich “Tourist Office” nennt. Der Inhaber heisst Seyoum Yigzaw, ist ein Mann um die Dreissig, freundlich und hilfsbereit und nicht so offensichtlich und vordergruendig nur auf unser Geld aus, wie wir das ansonsten von den Menschen kennen, die mit uns Touristen in Beruehrung kommen. Er hat wohl verstanden, dass Buiseness ganz von selbst kommt, wenn man seine Kunden gut behandelt. Seine Ehefrau ist Anfang Zwanzig und eher noch ein Maedchen, dass die Chance, die ihr das Buero in einem Land mit mehr als 40 % Arbeitslosen bietet, noch nicht recht begriffen hat. Ralph meint beobachtet zu haben, dass die Ehe Folge einer Zwangsheirat sei. Vielleicht ist aber die Unruhe der jungen Dame lediglich der alles ueberstrahlende Wunsch, aus Aethiopien heraus und nach Amerika oder Europa zu kommen. Eine ihrer juengeren Schwestern hat dies angeblich geschafft und lebt in Amerika. Ein junger Aethiopier, der sich im Buero einfindet, waehrend ich schreibe und Ralph am Nebentisch sein handschriftliches Tagebuch vervollstaendigt, scheint von seiner neuen Heimat USA kritiklos begeistert. Jedenfalls bezeichnet er Die Staaten als “gerecht und in der Balance”, was unseren Widerspruch hervorruft. Unsere Verweise auf die hohe Kriminalitaet, den immensen Unterschied zwischen Arm und Reich, Todesstrafe, korrupte Polizei, Finanzskandale, zahlreiche Offensivkriege, unzureichendes Renten- und Sozialsystem usw. ficht seine Ueberzeugung nicht an. Allerdings kann er sich nicht verkneifen, uns auf Hitler anzusprechen, den oesterreichischen Gefreiten, der uns wie ein Geist seit der Tuerkei verfolgt. Aethiopien war Heimat der Felascha, aethiopischer Juden, deren Volksgruppe seit den Auswanderungswellen nach Israel in den 80er und 90er Jahren hier fast ausgestorben ist. Es gab alte juedische Reiche in Aethiopien und so verwundert es nicht, dass der Holocaust ein hierzulande bekanntes geschichtliches Ereignis ist. Es bestehen gute Kontakte zwischen Aethiopien und Israel, wie ich den englischsprachigen Zeitungen entnehmen kann, die im Buero ausliegen. Unser USA-Hurrah-Freund weiss zwar vom amerikanischen Engagement im 2. Weltkrieg, aber sein Bild von Deutschland ist doch geradezu naiv. So glaubt er, dass es Auslaendern nicht gestattet sei, ohne polizeiliche Genehmigung von Stadt zu Stadt zu reisen, waehrend er ueberzeugt ist, in Amerika sei man frei und jeder Immigrant koenne hingehen, wohin er wolle. Von massenhaft ausgewiesenen Mexikanern, Suedamerikanern, Auffanglagern etc. hat er nichts gehoert. Auf den Strassen sieht man deutliche Zeichen dieser unreflektierten Affirmation zu Amerika: Oversizelook im Ghettostyle und Baseballkappen, Sweatshirts mit Namensaufdrucken amerikanischer Universitaeten und Filmhelden wie Leonardo DiCaprio (Titanic), Hip-Hop-Musik klingt aus den Bars, im Kino laufen amerikanische Aktionfilme. Erstmals seit unserem Reiseabschnitt Tuerkei sind die Verhaeltnisse in Palaestina kein Thema mehr, obwohl 45 % der aethiopischen Bevoelkerung der islamischen Glaubensrichtung angehoeren. Gleichwohl praktizieren die Jabartis (die Muslime des zentralen Hochlandes) ihren Glauben nicht genauso, wie es z.B. im Sudan geschieht. Hier vermischen sich Geisterglaube, Heiligenverehrung (die lt. Koran verboten ist) und Pilgerreise zu sog. Heiligen Staetten (nicht nach Mekka) mit der Islamischen Lehre. Islamische Gelehrte sind gleichzeitig als Heiler, Zauberer und Regenmacher beruehmt. Es fand auch nie eine Arabisierung statt, sondern die einheimische Bevoelkerung uebernahm ueber die Jahrhunderte den Glauben, wenngleich es auch gewaltsame Islamisierungen z.B. im 16. Jh. gab. Renata besucht in der Zwischenzeit, in der ich Tagebuch schreibe, die Slums der Stadt und den Markt. Die Verhaeltnisse in den Gassen der Aermsten sind schrecklich. Renata kann sich relativ ungehindert in den lehmigen Strassen bewegen, wenngleich sie auch staendig von Bettlern angesprochen wird. Sie unterhaelt sich mehr als eine Stunde mit Jugendlichen, die mit gebogenen Messern alte Reifen zerschneiden und daraus Schuhe fertigen (die wir schon im Sudan gesehen haben). Diese Sandalen Marke “Pirelli” werden weitverbreitet getragen. Sie kauft fuer uns eine Wolldecke, die wir im Hochland in der Nachtkaelte im Zelt brauchen werden, da unsere Schlafsaecke nur fuer Temperaturen bis etwa 15 Grad ausgelegt sind. Seyoum, der Buerobetreiber, spendiert einen Macciato-Kaffee nach dem anderen, kauft Gebaeck und kalte Getraenke und stellt mich als “Freund” seinen Buerobesuchern vor. Er laesst durchblicken, dass er von unserem Engagement fuer “Menschen fuer Menschen” sehr beruehrt ist. Wir unsererseits sind sehr erfreut darueber, hier vor Ort zu hoeren, wie bekannt und beliebt dieser Verein ist, obwohl die Region Gonder nicht zum Wirkungsgebiet von MfM gehoert. geschrieben am 12.12. in Bahir Dahr
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