1/7/2004 Aethiopien / ca. 15 km vor Buree
Standpunkte
Time is money?
(Harald) Am fruehen Morgen stoeckelt eine Prostituierte an meinem Zimmer vorbei. Die Damen des horizontalen Gewerbes gehoeren in Aethiopien praktisch zum Inventar der Hotels. Sie sitzen in den Hotelrestaurants oder –bars, oder fangen ihre Kunden vor den Einfahrten ab. Wie auch mein rechter Zimmernachbar, buchen die Freier die oft blutjungen Maedchen fuer kleines Geld fuer die ganze Nacht. Die Waesche, die ich gestern habe waschen lassen, ist noch nicht trocken, denn in der Nacht hat es geregnet und auch jetzt ist der Himmer teils bewoelkt. Im Restaurant des Hotels esse ich Eier mit Brot (was sonst?), dazu trinke ich Rohmilch mit Zucker. Der Kellner gibt mir seine Adresse. Viele wollen einfach irgendwen in Europa kennen, stolz erzaehlen sie einem dann gleich, dass sie Freunde dort haetten. Sie zeigen Briefe oder Fotos vor, lassen einen im Netcafe Mails lesen u.ae. Als ich nach dem Fruehstueck Tagebuchnotizen mache, kommt eine 10-koepfige Taenzertruppe mit einem Trommler ins Hotelcafe, im Chor singend, lachend, in die Luft springend, bewegen sie sich zwischen den wenigen Gaesten, ihre Schultern ruckartig und artistisch bewegend, wie es im volkstuemlichen aethiopischen Tanz ueblich ist. Sie klatschen in die Haende, die meisten tragen ein weisses, eng gewickeltes Kopftuch wie einen hochgetuermten Turban, dazu bluetenweisse Schemmas ueber kurzen, dunklen Hosen, aus denen die seltsam duennen Beine ragen. Heute ist Weihnachten, Heiliger Abend lt. aethiopischem Kalender. Zum Feiertag hat die Hotelleitung den Boden mit etwas Binsengras auslegen lassen. Immer, wenn man es schoener gestalten moechte, legt man hier dieses etwa 40 cm lange, kraeftig gruene Gras aus. Der Kellner sagt: “In Germany time is money, but not in Ethiopia, everything goes slowly”. Zeit spielt hier eine geringe Rolle, Zeit hat jeder, nur kein Geld. Ich fahre weiter. Mein Hauptaugenmerk liegt auf jetzt auf den Knaben, die ueber die Felder schreiend auf mich zueilen. Sie scheinen von Tag zu Tag aggressiver zu werden. Ich fahre ihnen, wo irgend moeglich, einfach davon. Neben der jetzt geteerten Strasse stehen immer wieder zerstoerte Panzer, Panzerwagen und Geschuetzlafetten. Und die Bauern ernten die letzten Felder ab, die Soehne treiben Rinder im Kreis ueber die Aehrenhaufen, die Vaeter werfen mit einfachen Holzgabeln die Bueschel in den Wind, um Spreu und Korn zu trennen und fuer die Aeckerbearbeitung werden Bullen genutzt, die primitive Holzpfluege hinter sich herziehen. Das alles hat so schon vor 1000 Jahren ausgesehen. Wenn ich die geschnitzten Holzhacken sehe, mit denen von Hand der Boden bearbeitet wird, mag ich nicht glauben, dass wir im 21. Jahrhundert sind. Die Knaben werden immer aufdringlicher. Sie laufen teils lachend, aber immer bettelnd neben mir her, aber auch hinter mir. Mit denen, die sich in meinem Ruecken annaehern, haben wir schon genug schlechte Erfahrungen gemacht. “You,you, give! Money,money!” Wahlweise wird auch “Woha” (Wasser), “Laguage” (Taschen), “Bicycle” usw. gefordert. Das Gebruell ist oft hysterisch, die Burschen springen auf mich zu, schneiden Grimassen, drohen mich anzugreifen, fuchteln mit ihren Tullas. Mancher fuehr sich, Fratzen schneidend, wie ein Affe auf und ich frage mich, was die von einem Ferensch eigentlich wissen. Vielleicht ist es die einfache Formel:”Spricht nicht meine Sprache, muss dumm sein.” Dazu kommt offensichtlich eine gute Portion Respekt, vielleicht sogar Angst, denn sobald man die Halbwuechsigen anschaut, sich umdreht, weichen sie zurueck, als habe man den boesen Blick. Vielleicht ist es auch das schlechte Gewissen, das Gefuehl erwischt zu sein. Denn immer wieder sehe ich, wie mein Gepaeck inspiziert wird. Es dauert dann auch nicht lange, bis der Erste wieder versucht, eine Wasserflasche zu stehlen. Als ich Mike in den letzten Tagen mal fragte, warum er mir in der ganzen Zeit nicht einmal selber wenigstens eine Cola spendiert habe, meinte er ungeruehrt: “Weil ich arm bin und du reich bist.” So,so, Leute, ich bin also reich! Was sind dann all die Menschen in Deutschland, deren angesammelten Werte ueber 50000 oder 200000 Euro liegen? Alles eine Frage des Standpunktes. Ich hoere immer, dass wir Deutschen unseren Wohlstand nicht geniessen koennten, wie z.B. die Amerikaner, dass wir eine Neidgesellschaft seien. Sicher ist es sinnlos und verlogen, einerseits viel zu besitzen, nichts abzugeben, aber ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber reich zu sein, es zu geniessen und nichts abzugeben kann ja auch nicht die Loesung sein. Es steckt viel Freude im Geben, wie ich selbst erfahren habe. Aus unserer Sicht ist der Sudan arm, fuer die Aethiopier ist er reich. Fuer die Sudanesen ist Aegypten reich, fuer die Israelis arm. Wenn wir Menschen, Voelker davon ueberzeugen wollen, unsere Lebensweise sei die Beste, so koennen wir dies nicht mit Waffenlieferungen oder Weltbankkrediten. Wir erreichen die einfachen Menschen so garnicht und wir geben kein nachahmenswertes Beispiel, wenn wir die Armen ignorieren. Wir ziehen Neid und Zorn auf uns. Wir muessen hingehen, sonst kommt es zu uns, ob wir wollen oder nicht. Spaetestens wenn meine Familie hungerte, waere es mir auch egal, ob ich mich an Gesetze und Landesgrenzen hielte. Die Tragoedien der Boatpeople sind da nur ein Vorspiel. Ich ueberquere einen Bergkamm. Hier oben ist es noch kaelter und ein Rest von Regenwald saeumt die Haenge, mit Lianen und baumhohen Kakteen, von denen viele in Bluete stehen. Am Nachmittag erreiche ich das vorlaeufige Ende der Teerstrasse. Die Kinder hier kennen durch den Strassenbau die Chinesen und rufen mich “China”. Das man mich mal mit einem Chinesen verwechseln wuerde, haette ich mir auch nicht traeumen lassen. Da heute Weihnachten ist, haben die Bauarbeiter das Messer im Schwein stecken lassen und einen Strassenabschnitt fast unpassierbar hinterlassen. Beidseitig der tief gegrabenen erdigen Piste tuermen sich Erdwaelle, die ich mit meinem Rad nicht ueberwinden kann, ohne alles abzupacken. Zwei LKWs stehen sich gegenueber, nichts geht mehr. Die Fahrer und ich lachen voller Galgenhumor, ob dieser Zustaende, bis sich die Autos aneinander vorbei geschoben haben. Im naechsten Dorf wird es wieder heftig, es fliegen wieder mal Steine, ich werde mit “f... you!” begruesst. Ich muss absteigen und mich selbst mit Steinen meiner Haut erwehren, um den Ruecken frei zu haben. Die Steine, die fliegen, sind gross wie eine Kinderfaust und sie werden gezielt geworfen. Und die Jungs koennen werfen und sie koennen laufen, weit und schnell. Bergauf habe ich keine Chance, sie loszuwerden, bergab ist es gefaehrlich, weil sie vors Rad springen oder Stoecke in die Speichen stecken koennen. Mancher tut auch nur so, als ob er treten wuerde oder schlaegt scheinbar nach mir. Wenn ich auf der geroelligen Strasse ruckartig ausweiche, stuerze ich. Jeder scharfe Stein kann beim Bergabfahren die Felge verbiegen, man muss die Augen auf den Untergrund richten, nicht auf Angreifer. 2 junge Maenner halten in einem weissen Isuzu-Pritschenwagen, wollen mich mitnehmen. Ich lehne ab. Eine Stunde spaeter sehe ich den Wagen umgekippt neben der Strasse liegen. Waere ich mitgefahren, wer weiss… Ich zelte auf einem Stoppelfeld, in einer Ecke aus Hecken, wo ich die Schnuere des Zeltes festbinden kann. Es sieht nach Regen aus. Im Zelt esse ich etwas und schreibe Tagebuch. Es beginnt zu regnen. geschrieben 22.1. in Addis Abeba
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