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Reisetagebuch

1/25/2004   Aethiopien / Addis Abeba

Die Neue Blume

Ueber Addis Abeba

(Harald und Renata) Ungewoehnlich fuer die Jahreszeit, wie Einheimische versichern, aber es regnet fast taeglich. Gewitter, dichte Wolken, wenig Wind, kuehl. Hat es stark geregnet, verschlammen die Nebenstrassen in Null Komma Nichts. Zur Regenzeit nimmt das katastrophale Verhaeltnisse an, weil viele Strassen mehr Fluessen aehneln, alles verschlammt ist, Autos in Loechern auf den Strassen einbrechen, Latrinen ueberschwemmt werden.

Addis liegt in den Bergen, weshalb fast die ganze Stadt auf Felsen gebaut wurde und dies erschwert auch die Anlage einer Kanalisation, weshalb viele Abwasserkanaele offen zu Tage treten und natuerlich stinken. Und uns ist ein Raetsel, wie die vielen Blinden sich, trotz der zahlreichen Durchbrueche der Kanalisation in Gehsteigen und Strassen, fortbewegen koennen. Ebenso ragen Markisen u.ae. in Kopfhoehe auf die Gehwege, so dass selbst wir Sehenden aufpassen muessen.

Addis ist eine junge Stadt, gerade mal etwas mehr als 100 Jahre alt. Zwischen 1800 und 2500 Metern Hoehe (dritthoechstgelegene Hauptstadt der Welt) und ueber 250 qkm (!) erstreckt sich das Stadtgebiet. Zwischen 3 und 5 Millionen Einwohner leben hier, niemand weiss das genau. Es ist wirklich keine schoene Stadt, nirgends, aber eine Stadt der Extreme.

1886 wurde in diesem Tal von der damaligen Kaiserin Taytu das erste Haus neben den hier entspringenden heissen Quellen errichtet und sie gab dem Ort den Namen Addis Abeba, “Neue Blume”. Drei Jahre spaeter wurde der erste Palast fuer den Kaiser Menelik II hier erbaut und die erste Wasserleitung des Landes verlegt. Und in einer Rundhuette, einem Tukull, wurde das erste Telgraphenamt eingerichtet. Die erste Bank, damals “Bank of Abyssinia”, wurde 1905 gegruendet, 1908 die erste Schule, 1910 das erste Krankenhaus, 1911 die erste Druckerei. Bezeichnenderweise gab es bereits 1898 das erste Kino, im Volksmund “Saytan bet” (Teufelshaus) genannt.

Ende des 19. Jh. hatte man begonnen, Eukalyptus aus Australien anzupflanzen, um der radikalen Abholzung entgegenzuwirken. Vor allem Brennholz wurde in gigantischem Ausmass fuer Kochen und Bauen verbraucht. Das ist bis heute so geblieben, so unverstaendlich dass auch ist. Denn es gibt Lehm genug, den man ungebrannt, aber auch gebrannt, fuer einfache Bauten verwenden koennte und Steine, bereits durch geophysische Vorgaenge in handliche Brocken zerlegt, gibt es im Hochland genug, um alle Haeuser daraus zu errichten. Steinhaeuser halten zehnmal laenger als Holz-lehmbauten und sind stabiler. Warum man also bis heute nicht lernen will, diese falsche Tradition abzulegen, bleibt unklar. Einstmals ein gruenes Paradies, ist Aethiopien heute bis auf etwa 4 % des urspruenglichen Waldbestandes abgeholzt und mit diesem Kahlschlag hat die Erosion zugenommen. Hinzu kommen die Viehherden, die alles abfressen, niedertrampeln und mit ihren Faekalien versaeuern. Nur die Aufgabe des Nomadentums fuehrt zu festen Wohnsitzen und Aufgabe der ueberreichlichen, oft nutzlosen Rinderherden und Anlage von Feldern zur Gewinnung landwirtschaftlicher Produkte und Handel mit ihnen. Sesshaftwerdung schafft Strassen, die die Doerfer verbinden, schafft Haeuser als Ausdruck der Wohlhabenheit anstelle der Zahl der Ochsen, schafft Geschaefte, Schulen und infolgedessen die Chance zur Bildung. Bildung schafft Einsichtsmoeglichkeiten, die wiederum letztlich zur Aufgabe der Frueh- und Zwangsheirat, fuehren. Wenn bereits Kinder verheiratet werden, wissen sie nichts von Familienplanung, von Aidspraevention. Die Folge ist Ueberbevoelkerung und eine Infektionsrate, die auf Dauer eine ganze Generation dahinrafft und den Staat voellig ueberfordert. Das klingt sehr theoretisch, aber meine vier Waisen aus Bahir Dahr sind konkrete Folge dieser Fehlentwicklung.

1917 erreichte die Eisenbahn von Djibouti die neue Hauptstadt. In den 20er Jahren gab es erste Verkehrspolizisten, in Uniform und barfuss. Der italienischen Besatzungszeit (1939 –1945) verdanken die Aethiopier ein rudimaenteres Strassennetz, sowie eine grosse Zahl oeffentlicher Bauten.

Noch vor 50 Jahren verglich man Addis mit Vororten eoropaeischer Grosstaedte, weitraeumig, beschaulich, voller Gaerten und Bungalows. Das aenderte sich in den 60er Jahren, die Stadt wuchs rasant bis heute. Allerdings kam die Versorgung mit Wasser und Elektrizitaet dem nicht nach. Heute muessen hunderttausende Menschen ihr Wasser von Verteilstellen holen und haben, wenn ueberhaupt, in einigen hundert Metern Entfernung eine oeffentliche Latrine. So wundert es nicht, dass man haeufig urinierende Maenner auf den Gehsteigen sieht (aber nie Frauen!).

Der Abfall wird ueberall hingeworfen, ein Umweltbewusstsein fehlt fast voellig. Die wenigen Baeche, die die Stadt durchfliessen, stinken gotteserbaermlich und sind voller Abfaelle. Jeder freie qm liegt voll Abfall, an dem sich neben Hunden und Katzen seltsamerweise auch Ziegen und Schafe laben.

Die Lebenshaltungskosten fuer eine mehrkoepfige Familie liegen bei etwa 50 USD, aber viele Familien koennen das nicht aufbringen. Deshalb gibt es tausende bettelnde Kinder, Schuhputzer und Kinderprostitution. Ganz offen werde ich hier, sofern alleine unterwegs, von Koberern angesprochen, ob ich eine 16-jaehrige Studentin haben moechte. Und viele der Maedchen die um das Taitu-Hotel herumlungern, sehen mehr nach 14-Jaehrigen aus. Niemals habe ich soviel Prostitution gesehen, wie in Aethiopien. Zeitungen bestaetigen unsere Beobachtungen, dass junge Frauen gemeinhin schlecht behandelt werden. Wir sehen, wie grob die jungen Maenner mit ihnen umgehen. Und Vergewaltigung hat hier den Nimbus eines Kavaliersdeliktes. Daneben gibt es Diebstahl brutalster Couleur. Blinde um ihren Erwerb zu bringen, Krueppeln die Kruecken zu stehlen, alten Frauen ihre paar Lebensmittel wegzunehmen, ist hier an der Tagesordnung und ich habe solches selbst gesehen.

Man schaetzt, dass 50 % der Stadtbevoelkerung nicht in der Lage sind, ihr Leben “normal” zu gestalten: Schulbesuch, Ausbildung, Arbeit, Versorgung, Lebensabend. Deshalb werden Autos oder Geschaefte bewacht (die ganze Nacht schlafen alte Maenner auf dem Gehsteig vor den Eingaengen), Lose der stattlichen Lotterie verkauft (Gewinn: 1 Cent EU! pro verkauftem Schein), deshalb gibt es Taschendiebe selbst auf dem Kirchengelaende, deshalb gibt es ueberall Streit und Schlaegereien. Man muss aufpassen auf den Strassen, denn viele Autofahrer riskieren das Leben der Passanten, jagen diese foermlich von den Strassen, beim Voruebergehen weichen die Maenner nicht aus. Zieht man seine Schulter nicht ein, oder macht einen Bogen, wird man angerempelt. Steht man irgendwo in einer Schlange, pressen sich ungeruehrt andere von beiden Seiten an einem vorbei. Spricht man mit einem Verkaeufer, reden einem andere ungeruehrt einfach dazwischen und die Verkaeufer wenden sich denen zu: der Staerkere hat recht. Wir lernen daher, uns durchzusetzen. Es gibt oft einen rueden Umgangston: Keine Begruessung oder Verabschiedung, kein Bitte und Danke, kein Laecheln. Vor allem in den Gaststaetten sind wir es ja gewohnt, hoeflich bedient zu werden, aber hier wird man fast dankbar, wenn man annehmbar behandelt wird. Sonderwuensche gewoehnt man sich schnell ab. Wie eine Denksperre wirkt das bei den Kellnerinnen und so kommen sie drei, viermal zurueck, um nochmal und nochmal nachzufragen , was man haben moechte. Ein Laecheln ist dabei so gut wie nie zu sehen. Und beim Laufen kann man den jungen Bedienungen die Schuhe besohlen.

Wer als Privatier investieren kann, tut dies meist in Hotels oder Supermaerkte. In Produktion und Verarbeitung wird wenig investiert. Absolventen der Schulen und Universitaeten finden kaum Arbeitsplaetze. So bleibt die Bevoelkerung zu arm, um eine starke Binnennachfrage anzuregen und dadurch kommt wiederum die Produktion nicht in Gang.

Da so gut wie niemand eine Krankenversicherung hat, bedeuten schwere Krankheiten eines Mitgliedes meist den endgueltigen Abstieg in die Armut fuer eine Familie. Zwar gibt es Aerzte und Behandlungsmoeglichkeiten fuer Aids, TBC, Geschlechtskrankheiten und Lungenentzuendungen und Krebs, aber es fehlt das Geld fuer die Therapie und in den Krankenhaeusern fehlen Betten und Medikamente. Wer ein Hospitalbett ergattern will, irrt oft tagelang durch die verschiedenen Krankenhaeuser der Stadt. Betreuung und Versorgung der Kranken muss dann von den Verwandten wahrgenommen werden.

Afrikas groesster Markt ist in Addis: der Merkato. Man geht zum Mercato um zu kaufen oder zu stehlen, sagt ein Sprichwort in Addis. Schmutzig, riesig, mehr ein Stadtviertel, als ein Markt.

1963 wurde in Addis die OAU gegruendet, die Organisation fuer Afrikanische Einheit. Addis ist Sitz der ECA, der Wirtschaftskommission der UN fuer ganz Afrika. Hier finden viele politische Verhandlungen statt, z.B. ueber die Unabhaengigkeit des sudanesischen Suedens.

Addis ist wichtigster Ort im Horn von Afrika, aber nicht in der Form exotisch, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es ist eine anstrengende Stadt, mehr als jede andere Stadt, die ich je gesehen habe. Diese Stadt laesst einen nicht unberuehrt.

geschrieben am 3.2. in der “Neuen Blume”


 


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