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Reisetagebuch

9/1/2004   Kenia / Lokologo

Eine Hochzeit und ein Todesfall

Gibt es so etwas wirklich in Deutschland?

(Harald) Das Kraechzen einer der Haehne der Manyatta weckt mich auf. Ich trete vor meine Huette, eine meiner roten Schukas umgeschlagen, die traditionelle Decke der Niloten-Nomaden. Stumm schnueren mit gesenkten Koepfen zwei sandfarbene Hunde durch die Lavatruemmer, ein paar Ziegen schreien wie vernachlaessigte Kinder, ein Eselhengst wiehert seine Sehnsucht heraus und das erste Kinderjammern, von Hustenanfaellen unterbrochen, durchdringt die duennen Huettenwaende. Morgen in Lokologo.

Mary, die Braut, wird heute von ihrem Ehemann von der elterlichen Huette abgeholt. Der Ehemann kommt mit seinem Trauzeugen, Mary wird von Margret, ihrer Brautjungfer begleitet. Margret, die Flugzeugmechanikerin, hat sich nur sichtlich widerwillig die traditionelle rote Bemalung aufgelegt

Die Aeltesten haben ein Spalier aufgebaut, ueberspannen die Vier mit ihren Hirtenstaeben, wie wir das auch in Deutschland beim Auszug aus dem Standesamt machen, wobei wir eben andere Berufswerkzeuge benutzen und statt Reis wird hier Milch ueber dem Zug versprengt.

Die Aeltesten singen ein Segnungslied, waehrend der kleine Umzug die Manyatta aussen im Gaensemarsch umkreist, ernsthafte Gesichter, fast verlegen, wie in Zeitlupe.

Zweimal weist einer der Aeltesten die Gruppe an, sich in Reihe nieder zu hocken. Dies symbolisiert einen weiten Marsch, auf dem man Rast machen muss. Dann reicht der fuehrende Ehemann eine Kalebasse, eine ausgehoehlte, birnenfoermige Baumfrucht, die mit Kuhmilch gefuellt ist, ueber die Schulter, ohne sich umzudrehen. Der hinter ihm hockende Moran trinkt etwas und gibt an die Ehefrau weiter und die an ihre Freundin.

Mary ist traurig und gluecklich zugleich. Sie hat heute Nacht zum letzten Mal im elterlichen Heim geschlafen, ein Lebensabschnitt geht unabaenderlich zu Ende. Sie zieht fuer eine Nacht ins Heim der Schwiegereltern ein, die damit die Aufnahme in die neue Familie anzeigt und morgen wird die neue Huette des Brautpaares fertig sein.

Margrets Pflicht ist jetzt erfuellt und sie kann erleichtert das ockerfarbene Fett abwaschen und den schweren Halsschmuck ablegen.

Wie jeden Tag, habe ich vor meiner Huette Besuch. Ich habe zu diesem Zweck vor meinem Eingang in einem Halbkreis fuenf grosse Steine auf kleinen Steinfundamenten aufgestellt und die Besucher nutzen diese Sitze auch sogleich. Mich wundert, dass es solche einfachen Sitzgelegenheiten in keiner der Manyattas gibt und man stattdessen auf dem Boden oder Planen sitzt. Vom Hauptweg zu meiner und Margrets Huette habe ich einen breiten Weg angelegt, sprich von Steinen freigeraeumt. Alle Wege, die Lokologo durchziehen wie braune Adern, sind nur ein paar Fuss breit und mein Weg wird sogleich als "Lokologo-Highway" (Autobahn) benannt.

Zu Besuch sind junge Maenner gekommen. Sie kommen aus Neugierde, wollen mich kennen lernen, mancher wurde wegen seiner Englischkenntnisse auch etwas genoetigt mich zu unterhalten, andere kommen, weil sie irgendetwas haben wollen.

Diese hier sagen, sie haetten gehoert, ich wuerde seltsame Sachen ueber sie, die Nomaden sagen. Damit meinen sie meine Einstellung zu der Missachtung, die ihnen landesweit widerfaehrt.

Die Nomaden kann man mit etwas Wohlwollen als hoch entwickelt, -spezialisiert, -effektiv und modern bezeichnen. Sie besitzen ueberwiegend zwar keine Schulbildung, aber eine tief reichende Kenntnis ueber ihr Vieh, die Wildtiere und Heilpflanzen. Sie haben eine Philosophie, eine erzaehlte Historie, sie besitzen Maerchen, Mythen und hunderte von Sprichwoertern, die ihre Lebenseinstellung widerspiegelt. Sie geben sich fuer unsereins unloesbare Raetsel auf, sie haben ein komplexes Sozialsystem und einen starken Familienzusammenhalt. Sie besitzen Mut, Ausdauer und Leidensfaehigkeit, ertragen Angst, Schmerz, Hunger, Durst um vieles besser als wir. Fast ausnahmslos sind sie schlank, die jungen Leute sind bilderbuchmaessig durchtrainiert. Sie singen bereits im Kindesalter viele Lieder, sie tanzen energiegeladen, haben eine farbenpraechtige Kleidung in verschiedenen Moden und fertigen alles, was sie benutzen, selbst an.

Ich koennte diese Liste fortsetzen, aber man muss sich einfach nur einlassen auf diese Menschen, um sie bei aller Fremdheit zu respektieren und zu moegen. Mir gefaellt hier so manches nicht, aber das ist in Deutschland ja auch nicht anders, nirgends wurde die eine, ultimative Gluecksformel gefunden.

Die jungen Maenner fragen und fragen. Ich denke, dass die nomadische Lebensweise vom Aussterben bedroht ist, nicht in persona, sondern als Kultur und Lebensstil und den Nomaden nicht mehr viel Zeit bleibt, wenn sie diesen Prozess noch hinauszoegern wollen. Realistischerweise glaube ich sogar, dass es bereits in einer Generation diese Traditionalisten in nennenswertem Umfang nicht mehr geben wird.

Das ergeht auch den Tuareg-Nomaden in der Sahara nicht anders, oder den Beduinen in Syrien, Jordanien, Israel und Aegypten. Sie sind die wahren Araber, sie sind die Einzigen, die seit mehr als 4000 Jahren die Wuesten und Savannen hoechst effektiv nutzen, waehrend die Zivilisation seit 100 Jahren von der "Bewaesserung der Wuesten" traeumt- etwas, das nie wahr werden wird, genauso wenig wie die Algenfarmen, von denen in den 70er Jahren die Rede war. Es gibt in den Trockengebieten ja nicht mal genug Trinkwasser, wer soll bei der Verdunstungsrate da Flaechen bewaessern und die so ueberteuerten Erzeugnisse kaufen?

Wissenschaftlich erwiesen ist, dass ein Pastoralist, also ein Hirte (Pastor = Herdenfuehrer), aus 1 eingesetzten Energieeinheit/Arbeitskraft ganze 30 erzeugt, waehrend ein Farmer gerade mal auf etwas mehr als 1 erzeugte Einheit kommt. Probleme der Hirten sind die Unzuverlaessigkeit des Wetters und die Gefahren durch Wildtiere, Ueberfaelle sowie Viehkrankheiten. Hier kann allerdings der Staat viel tun, was in Kenia jedoch nur sehr begrenzt geschieht.

Das hiesige Nomadenland umfasst rund 50 % des kenianischen Staatsgebietes, sowie Millionen von Menschen. Die Nomaden versorgen ganz Kenia mit Fleisch, Milch und Leder. Die Massai, die sich zwangslaeufig mit den Staemmen der Kikuyu, Kamba, Meru, Luo und Kalendschin, weitgehend heute Farmer, arrangieren mussten, sind der bekannteste Stamm in Afrika und bringen als Touristenmagnet jedes Jahr Millionen von Dollars ins Land. Trotzdem sind sie nicht geachtet, ja oft verachtet, werden gar mit Tieren verglichen. Fragt man nach, wissen die Kenianer des fruchtbaren Suedens recht wenig ueber die Nomaden, aber alles besser.

Die Nomaden lachen mehr als z.B. die Deutschen, ich erlaube mir diese Feststellung, ohne jahrelangen Aufenthalt und gesicherte, wissenschaftliche Daten. Hier entsteht um kleinste Dinge eine Heiterkeit, als suche man den Witz foermlich. Wem Comedy-Shows keine Unterhaltung bieten, muss das halt selber machen.

Witze allerdings verstehen diese Leute einfach nicht, ich habe das oft versucht. Ihnen ist Ironie und Sarkasmus voellig fremd und erst hier ist mir aufgefallen, wie zynisch unsere Gesellschaft ist. Ist das Folge einer Entfernung von den natuerlichen, einfachen Dingen, den schlichten Wahrheiten? Hier kommt man, ohne Unhoeflichkeit, stets auf den Punkt. Es gibt auch hier Schwafler, Egozentriker, vor allem Luegner, aber die Informationsmenge, die auf diese Menschen einfliesst, ist gering, die Welt hat noch einen klaren Rahmen und erkennbare Gesetzmaessigkeiten und die Koepfe sind nicht so voller Info-Muell, wie bei uns. Hier wird nicht am Busunglueck in Indien, am Hausbrand in Hongkong und am Wirbelsturm in Haiti gelitten. Hier gibt es keine Aktienkurse, Inflation und endlose Vertraege, Versicherungspolicen und Anmeldeformulare. Kein Finanzamt, keine Verkehrsregeln, keine Buecher, kein Fernsehen. Die Amerikaner haben die ueberbordende Flut von Informationen und Verpflichtungen als belastend erkannt und den Begriff des "simplify your life" als Heilmittel gepraegt (vereinfache dein Leben). Hier gibt es keinen Stress, aber viel Zeit fuer alles, fuer Gespraeche und Kontakte vor allem.

Die Nomaden betrachten die Alten als ihre geistigen Fuehrer. Ein Aeltester wird umso mehr geachtet, je aelter er ist, denn Alter ist Gottessegen und hier sind Alter und Weisheit eins. Ein Aeltester ist Quelle der Weisheit, die Versammlung der Aeltesten beschliesst fuer die Kommune. Ich frage: Wie sollen wir als Gesellschaft, statt immer nur mehr Wissen anzuhaeufen, weiser werden, wenn wir die Alten als Quelle ausgrenzen?

Die Jungs haben Geruechte gehoert: Gibt es in Deutschland wirklich Haeuser, in die man die alten Leute bringt? Ich muss laecheln, aber dann wird mir klar, wie real der Hintergrund der Frage ist.

"Ja, es gibt solche Haeuser", bestaetige ich zoegernd. "Wir nennen sie Altenheime, dort werden diese Menschen betreut, versorgt."

"Warum sind die Aeltesten nicht bei ihren Familien?" fragen mich die Jungs.

"Wir haben keine Zeit fuer sie und die Alten haben keine Aufgabe mehr. Und ausserdem kommen wir nicht gut miteinander aus und stoeren uns gegenseitig nur", antworte ich.

"Stimmt es, dass es sogar Haeuser zum Sterben gibt, wo die Alten hingebracht werden, wenn ihre Zeit gekommen ist?"

Wieder muss ich nicken. "Ja, die gibt es, viele, aber immer noch zu wenige, denn niemand will das Leid anschauen und sich kuemmern. Auch arbeiten alle hart und haben keine Zeit."

"Stimmt es auch, dass es Haeuser gibt, wo man die Kinder hinbringt, damit sie nicht zu Hause sind?"

"Ja", resigniere ich. "Wir leben anders als ihr. Die Frauen arbeiten wie die Maenner, sie wollen es den Maennern gleich tun und unabhaengig sein und wer soll da die Kinder versorgen, wenn die Grossmuetter nicht im Haus sind?" Ist das wirklich ein gutes Argument?

Die Jungs lachen laut, schuetteln die Koepfe. "Wir Afrikaner lieben Kinder und sie versorgen uns, wenn wir alt sind."

Wie viele Geschwister ich haette, fragt man. Nun, ich bin ein Einzelkind, ich habe 3 Onkel, von denen ich zwei nie sehe, sowie eine Tante, einen Cousin und eine Cousine. Da die Nomaden in Polygamie leben, hat ein Mann oft mehr als 10, 20 Kinder und da frueh geheiratet wird, ist er alsbald Grossvater und als Greis umringt ihn dann eine Familie von ueber 100 Menschen. Mit jeder Heirat eines der Kinder entsteht eine Bindung an andere Familien und Clans, ein soziales Flechtwerk entsteht. In Muenchen und anderen deutschen Grossstaedten sind dagegen ueber 50% aller Haushalte Singles. In den Tageszeitungen sprechen Schlagzeilen vom "Aussterben der Deutschen", weil bei uns mehr Menschen sterben, als geboren werden. Wir brauchen Auslaender, um unser Sozialsystem aufrecht zu erhalten. Eine Chance fuer afrikanische Adoptivkinder.

"Stimmt es, dass man bei euch Tote erst nach Wochen in den Wohnungen findet?" Nein, dass ist nicht ganz richtig. Man findet sie manchmal erst nach Jahren. Betroffene Gesichter, Kopfschuetteln.

"Warum arbeitet ihr soviel, wenn ihr dann zwar alles besitzt, aber keine Zeit fuereinander habt?" Ich bin mit meinem Latein am Ende, dazu faellt mir nur noch Blabla ein, ich zucke mit den Schultern. Wie sagt mein Cousin doch immer so schoen: "Man kann am Tag nur zweimal warm essen." Wann haben wir genug?

Die Nomaden zahlen keine Steuern, aber der Staat gibt ihnen auch nichts, nicht mal Sicherheit, wie ich bald erfahren sollte.

Jammergeschrei weht zu uns aus einer 200 Meter entfernten Manyatta herueber. Was geschehen sei, frage ich Isiolo, Margrets direkte Nachbarin und Tante. "Ein Kind ist in der Nacht gestorben."

Als ich sehe, wie die aelteren Maenner, zu deren Gruppe ich durch mein Alter automatisch gehoere, ein Grab ausheben, gehe ich hin. Eine kleine, knietiefe Grube wird ausgehoben. Ein Zwillingspaar wurde geboren, eines der Babys war zu klein und schwach und starb. In Deutschland haette es im Brutkasten sicher ueberlebt, aber so auch einen moeglichen genetischen Fehler weitergegeben. Die Nomaden haben bis vor ein paar Jahren missgebildete Kinder sofort getoetet, indem ihnen Gras oder Erde vor dem ersten Atemzug in den Mund gesteckt wurde. Ausser einem einzigen mongoliden Jungen habe ich nie einen seit Geburt behinderten Menschen gesehen. Blindheit durch Krankheit und Unfall sind haeufig, aber z.B. Sehfehler durch Alterung selten.

Jetzt wird das Baby gebracht, ein erschreckend winziges Buendel wie ein Laib Brot, ein Stueck Umhang umhuellt das Koerperchen, das ein alter Mann wie kostbares Glas vor sich traegt und behutsam in die Grube legt.

Traditionellerweise wurden bei den Samburu Tote einfach ausserhalb der Doerfer in die Wildnis unter die Buesche gelegt, damit sie von den Hyaenen, Schakalen, Geiern und Ameisen gefressen werden- die nomadische Version von "Asche zu Asche, Staub zu Staub" oder "Aus Erde bin ich gemacht, zu Erde soll ich werden." Die kenianische Regierung schreibt Beerdigungen mittlerweile vor, aber die Graeber liegen hier einfach zwischen den Manyattas, dort, wo man sein Geschaeft verrichtet, es gibt keine Kreuze und Gedenksteine, obwohl fast alle hier Christen oder Muslime sind. Und niemand wuerde solch ein Grab besuchen, der Koerper ist eben tot, weg. Seine Seele lebt in den Herzen und Koepfen.

Margrets Grossmutter hat ihr gesagt, sie solle sie nach deren Tot sofort vergessen und sich mit dem Leben beschaeftigen, wozu an sie denken? (Margrets Mutter wurde vor 5 Jahren Opfer eines Raubmordes im 50 km entfernten Laisamis).

Jetzt sammeln die Aeltesten grosse Steine, legen diese vorsichtig auf den Koerper, als wollten sie ihn nicht verletzten, dann wird Erde geschuettet, dann ein Steinhaufen gesammelt, ich beteilige mich, man dankt mir mit Handschlag, eine stumme Minute, kein Gebet, alles zerstreut sich, zwei der Maenner lachen laut.

geschrieben am 24.9. in Nanyuki


 

 

 

 

 

 

 


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