9/12/2004 Kenia / Lokologo
Strategiespiele
Ein Bettelreigen
(Harald) Merayon hat mich auch vor uebermaessiger Bettelei und Zudringlichkeit geschuetzt. Das war uns auch schon vorher klar. Trotzdem bin ich enttaeuscht, als die Leute nicht mal einen Tag Frist gewaehren lassen, sondern am selben Nachmittag auf der Matte stehen. Die Erste war gestern De-Re, die es zum wiederholten Male versuchte. Da sie keinen Grund hat, von mir etwas zu fordern, erfindet sie die abenteuerlichsten Geschichten. Heute morgen hat sie sogar einen Dolmetscher engagiert, um ihre vermeintliche Forderung an mich zu artikulieren. Als alle ihre Argumente durch mich widerlegt sind, winkt der Dolmetscher genervt ab: das sei doch alles Quatsch! Dann kommt Giguyu, auch sie mit Luegen, ich sei ihr noch Geld schuldig und ueberhaupt haette ich doch die geschlachtete Ziege nicht bezahlt (die ein Geschenk an Merayon war) und ich haette ihr auch nie Geld geliehen. Mir stockt der Atem bei solcher Unverfrorenheit. Auch hier widerlege ich alles und wieder ist der Dolmetscher voelig genervt, denn er kennt seine Pappenheimer natuerlich genau und sieht sogleich, dass man hier nur versucht, mir irgendwie Geld aus der Tasche zu ziehen. Der Naechste ist der alte Lorinjo Lerentilei, dem ich meinen Zweithut geschenkt habe. Der etwa 75-jaehrige kennt sein Alter nicht genau (wobei ich nie genau weiss, ob die Leute das nicht als Standardgag verwenden: Musungus finden es wohl stets erstaunlich, dass die „Eingeborenen“ nicht ihr Alter kennen- das wird schon fast erwartet. Fakt ist aber, dass hier jeder eine ID-Card hat, also einen Pass, auf dem das Geburtsdatum steht). Lorinjo fragt mich um 100 „Schillingi“, angeblich fuer Medikamente, er habe Malaria. Ich habe ihn, seitdem ich hier bin, stets gesund gesehen und kenne diese Masche schon, gebe ihm aber trotzdem Geld, auch wenn ich dem alten Schlitzohr die Masche nicht abkaufe. Er hat die Szenen mit De-Re und Giguyu mitangesehen. Um an das Geld zu kommen, haelt er eine grosse Rede, sagt, De-Re und Giguyu seien Luegnerinnen, stellt sich ostentativ auf meine Seite- damit ich nun ihm Geld gebe. Waere das nicht alles so kindlich und einfach gestrickt und von daher fast amuesant, wuerde ich wohl voellig veraergert sein. Nachdem mir der Alte so schoen nach dem Mund geredet hat, kommt eine Frau und raeumt die Matratze aus Merayons Huette, auf der ich eigentlich jetzt schlafen soll. Dann werden beide Hocker abgeholt, Teile des Geschirrs, eine Kiste; alles, als ob ich schon garnicht mehr da waere. Als ich bei der Matratze protestiere, heisst es: kannst sie weiterhin benutzen, aber nur gegen Geld. Daraufhin stelle ich die Matratze selbst vor die Tuer. Auch Isiolo reiht sich ein in den Reigen der Forderer: es sei kein Zucker mehr da um Tee zuzubereiten- was Unsinn ist, denn wir haben gerade noch ein ganzes Kilo gekauft. Jeder will jetzt nochmal die „Weisse Kuh“ melken, bevor diese abreist. Ich kaufe ein uraltes Brettspiel, dass in ganz Ostafrika unter den Nomaden aller Staemme verbreitet ist. In Kiuaheli heisst es „Ajuja“. Zwei Reihen von Loechern muessen im Uhrzeigersinn mit Glaskugeln gefuellt und dann mittels Taktik geleert werden. Die Kinder graben dazu einfach kleine Mulden in den Boden und spielen mit Steinchen. Ajuja ist ein reines Strategiespiel, wer am besten vorausplant, gewinnt. Das aehnelt den realen Lebenumstaenden der Hirten: wer das Wetter am besten voraussieht, wer am ehesten weiss, wo das beste Gras waechst und keine Ueberfaelle drohen, der ist erfolgreich und mehrt seinen Viehbestand, sprich seinen Reichtum. Wer falsch plant, kann alles verlieren und untergehen. Setzt man das Brett mit dem Operationsgebiet fuer die Herdenwanderungen gleich und die Steinchen als Viehbestand, wird die Parallele noch deutlicher. Vielleicht verbirgt sich hinter dem noch komplexeren Strategiespiel Schach ein ebenso realer Nomadenbackground? Was, wenn die heute als Bauern bezeichneten Figuren mal Hirten waren, die sich auf dem Brett bewegen, sprich in den Stammesgebieten? Wenn die Pferdchen reale Reitpferde darstellten, die grossraeumige, komplexe Bewegungen erlaubten? Und wenn die Koenigin, als Symbol fuer eine starke Strategie durch Verheiratung, ebenfalls real gemeint war? Ich gehe heute, am Sonntag, zur Kirche. Die meisten Besucher sind Jugendliche, alle haben sich feingemacht, auch ich erscheine mit weissem Hemd und gruenem Kikoy. Ich komme hierher, weil mir die vielstimmigen Gesaenge so gut gefallen, danach besuche ich mal wieder den Schmied, der meine Speere immer noch nicht fertiggestellt hat. Spaeter besuche ich zum ersten Mal Isiolo in ihrer Huette, wo mir Deressina Bilder von Merayon zeigt, die vor drei Jahren in Sierra Leone als UNO-Blauhelmsoldat eingesetzt wurde, und von William, dem Vater von Meryons Sohn Max. Diese Frau erstaunt mich wirklich: sie hat bereits 2 Kinder von verschiedenen Vaetern und wuenscht sich noch zwei weitere, trotz ihrer Arbeit als Soldatin und der Hin- und Herreiserei von Nanyuki nach Lokologo. Ich schlafe heute Nacht zum letzten Mal in meiner Huette. Ein Samburusprichwort sagt: Miaku lbolboli odung-o nkutuk nemeiro (Taten sprechen lauter als Worte). Ein anderes sagt: Kemut ene nkeju (Das Leben aendert sich). geschrieben am 10.10. in Arusha
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