10/19/2004 Tansania / Moshi
Gebt uns bitte eure Probleme!
Erster Tag der Tour Richtung Daressalam
(Harald) Ich hole morgens meine Kamera ab. Die angeblich ausgetauschten Ersatzteile sind da, winzige Plastikteilchen, aber sind die aus MEINER Kamera? Und beschaedigt sehen sie auch nicht aus, eher neu. Was bleibt mir anderes uebrig, als zu zahlen, was sie verlangen? Die ziehen mich voll ueber den Tisch, aber sitzen auch am laengeren Hebel. Letztes Mailchecken im Netcafe, ich hinterlege noch eine CD mit Fotos fuer Karin zum Mitnehmen, dann gehts endlich los. Am Kreisverkehr mit dem Uhrenturm geht es vorbei (9.30 Uhr), die Zeitunsgverkaeufer rufen einmal mehr "Mister!" und "My friend!", dann bin ich schlagartig im Gruenen und es beginnt leicht zu regnen. Linker Hand liegt der Mt. Meru, an den Strassenraendern werden ueberall Papaya, Bananen, Kassawa, Gurken, Zwiebeln und Tomaten, sowie faustgrosse Kokosnusswinzlinge angeboten. Hier werden ueberall Felder bestellt, aber das sieht nicht wie in Deutschland aus, denn Traktoren haben hier nur Grossbetriebe, fuer Zaeune gibt es kein Geld und Grundstuecksgrenzen sind nicht exakt. Ueberhaupt: viele Bauern legen einfach irgendwo ein Feld an, dass kann auch schon mal auf den Zugwegen der Nomaden liegen und dann gibt es Streit, Drohungen, schliesslich sog. "Clashes", also ethnische Zusammenstoesse mit Toten und Verletzten und verbrannten Huetten. Wenn die Massai, als groesste Nomadenethnie Tansanias, kein Gehoer finden, agieren sie einfach und die Regierung bestraft zwar Gewalttaeter, so sie deren habhaft werden kann, gibt aber auch den Nomaden recht, wenn die Bauern ihre Felder "wild" angelegt haben. Meine Gangschaltung schleift, obwohl sie erst in Nairobi neu eingestellt wurde und mein Hinterrad hat eine Beule. Ich lasse den Mt. Meru hinter mir und zwischen den Wolken taucht die gleissende Spitze des gewaltigen Kilimandscharo auf, dessen riesige Haenge im Schatten von Regenwolken liegen. Dort oben regnet oder schneit es jetzt. Drei Feldarbeiter bei der Tschai-Pause rufen mir zu, ich wende, ein Tee kommt mir gerade recht. Keiner der Maenner mit lehmigen Haenden spricht mehr als ein paar Brocken Englisch, aber wir unterhalten uns trotzdem. Wo ich herkaeme. Aus Deutschland. Liegt das neben Australien? Nein, dass ist auf der anderen Seite der Erdkugel. Ob ich aus Tokiyo sei. Nein, dass ist in Japan. Wo ist Amerika? Ich zeichne eine grobe Weltkarte in den Sand, gebe aber angesichts der ratlosen Gesichter bald auf die Lage Europas zu schildern. Ich teile meine Kekse mit den Jungs, einer fragt mich nach einer Zigarette, sorry, Nichtraucher. Und Geld..? Nein, gibts auch nicht. Neinsagen lernt man ganz sicher in Afrika. Meine zweite Pause verbringe ich im Schatten eines Kiosk, auf einer schmalen Mauer sitzend. Bei einer Soda "Fanta-Passion" lese ich eine Neue Zuericher Zeitung, die ich in Arusha erstehen konnte. Aehnlich wie bei uns, geht es um Wohlstandsprobleme, Arbeitslosigkeit, Armutbekaempfung, Uebergewicht, Reiseziele, die neusten Automodelle, Sport etc. In Tansania wuerden sie schreien, so sie denn einer hoeren wuerde: "Gebt uns bitte, bitte eure Probleme!" Das Schlagwort "die Qual der Wahl" gibt es in Tansania nicht. Und ueber Diaeten muessen sich hier die Wenigsten Gedanken machen, auch nicht ueber Renten und Arbeitslosenversicherungen. Schon um 15 Uhr erreiche ich nach 75 km Moshi, letzter Ort den ich schon kenne, weil ich hier mit Oliver war. Moshi ist ruhiger, kleiner als Arusha, es gibt weit weniger Touristen. Hauptattraktion ist der Kilimandscharo, der hinter der Stadt aufragt. Hier bluehen hunderte von pinkfarbenen Bougainvilleenes es gruent und wuchert fruchtbar. Ich finde das Haus von Mama Brenda, nebenan findet eine Trauerfeier statt. Eine 23-jaehrige Mutter ist an Aids gestorben, man erzaehlt das ungerne, eher fluesternd. Und die Waisen... Aber Mama Branda ist nicht Mama Brandy, fuehrt mich aber zu dieser hin. Die ist ueberrascht, weil ein informierender Anruf ueber ihr Handy sie nicht erreicht hat: das Mobilfunknetz funktioniert mal wieder nicht. Trotzdem heisst mich die freundliche um die Dreissig herzlich willkommen. Ihr einzige Tochter heisst Brandy, nach der Amerikanischen Souldiva benannt, und demgemaess nennt sich Mery Beatuc Mtuy eben einfach "Mama Brandy". Auf der Strasse spricht man sie mit "Mama" an, juengere Frauen sind "Sister", ich heisse "Father" (auch wenn ich keiner bin), oder, wenn man ein Geschaeft mit mir anbahnen will, auch "My Friend", weniger haeufig werde ich "Brother" genannt. Diese Anreden spiegeln die Bedeutung wieder, die verwandtschaftliche Beziehungen fuer die Tansanier haben, sowie eine ausgefeilte Begruessungskultur, wie ich sie in allen islamischen und afrikanischen Staaten meiner Reise kennegelernt habe. Befolgt man die Regeln der Anrede nicht, kann es einem schon mal passieren, dass man schlichtweg ignoriert wird, laenger warten muss oder gezielt falsche Auskuenfte bekommt. Als ich in Arusha in der Post mein Geld bei Western Union abholen wollte, kostete mich mein ungeduldiges Verhalten glatt eine halbe Stunde- der Beamte verliess einfach den Schalter und kam nicht mehr zurueck. Mama Brandy serviert mir Hausmannskost, entschuldigt sich sogar dafue. Ich erklaere ihr, dass ich kein "normaler" Tourist bin, der gerade angekommen ist und verzweifelt nach den besten Restaurants Ausschau haelt, sondern lokales Essen jeder Art zu mir nehme, auch Ugali (Lachen!), auch Makande- Mais und rote Bohnen (Gelaechter!), Karanga und Shoarma (gekochtes Ziegenfleisch und gegrilltes Rind). Mit grossem Appetit schaufle ich mir also drei Portionen Bohnen und Reis auf einen Blechteller, dazu trinke ich Wasser- auch das erstaunt die Gastgeberin, die von ihrer Freundin Branda, die im Tourismusgewerbe hier in Moshi taetig ist, seit Jahren nur hoert, dass die Leute das Wasser nur abgekocht oder Flaschenwasser trinken. Wenn ich da an das braune Nilwasser denke, dass wir wochenlang mit Wohlbehagen getrunken haben... Mary zeigt mir zwei Fotoalben ihrer Familie- dieses Ritual ist mehr als Beschaeftigung fuer den Gast. Es gewaehrt Einblick in den Familien- und Freundeskreis, bietet Zugang. Ich sehe eine glueckliche Ehe in den Bildern, viel Liebe fuer einander, eine geloeste, sorglose Tochter. Ich telefoniere mit Valentine, die nach Moshi kommen wollte, um mich nochmal zu sehen. Und tatsaechlich ist sie am Abend da, der Schwiegervater und Marys Ehemann sind vom Markt gekommen, wo ein kleiner Handel mit Second-Hand-Kleidung betrieben wird. Tansania ist eines der Laender, in die gebrauchte Kleidung z.B. aus Deutschland verschifft werden. Wer also eine Jacke in Krefeld in einen Sammelbehaelter des Roten Kreuzes wirft, kann sie vielleicht hier wiederfinden. Dieser Handel ist in Tansania so wichtig, dass die Zeitungen darueber schreiben- auch kritisch, denn getragene Unterwaesche, BHs und Socken moechte die Regierung nicht angeboten wissen, weil dies "gegen die Wuerde der Tansania verstosse". Die Preise der getragenen Unterwaesche liegt teilweise sogar ueber der neuen, in China oder Indien hergestellten, aber Chic und Qualitaet machen sie fuer die Tansanier trotzdem interessant. Mit Valentine fahre ich in einem Dala-Dala in die Stadt in ein Internetcafe. Auf der Rueckfahrt- der Bus ist derart ueberfuellt, dass man nicht mal Platz fuer die Fuesse hat- albern wir rum, bis der ganze Bus schallend lacht: hier, ueber die Schoesse der vier in der letzten Reihe Sitzenden, kann noch einer langgelegt werden! Und: wer zupft mir denn da an der Socke? Ach, da liegt Einer unter der Sitzbank und will aussteigen! Ich schlage Werbung fuer die Dala-Dalas vor: "Get close!" "Stay in touch!" Und: "No risk, no fun!", wenn der Wagen, dessen Stossdaempfer durchschlagen und aus dessen Schiebetuere vier Maenner heraushaengen, bei Ausweichmanoevern schlingert, wie ein Sack Kartoffeln auf Schmierseife. Ich weiss noch, wie ich mich immer wieder ueber diese Fahrweise aufgeregt habe, aber das ist im Laufe der letzten anderthalb Jahre Afrika verflogen. Valentine schreibt mir Adressen von Verwandten in Same und Mombo auf, sowie ein paar Redewendungen in Kisuaheli, weil in Tansania weit weniger Menschen Englisch sprechen, als in Kenia. Und dann erzaehlt sie mir, draussen, auf einer Mauer sitzend, im Ruecken den mondbeschienenen Kilimandscharo, spontan ihre Lebensgeschichte. Valentine ist 28, eine sehr attraktive Frau, gross, mit strahlenden Zaehnen und was ich hoere, widerspricht dem Bild einer so oft lachenden Frau sehr. Es ist die Geschichte eines Maedchens, dessen Schoenheit gleichzeitig ihr groesstes Verderben ist. Ihre Chefin hat mir erzaehlt, dass sie ein Kind hatte, dass gestorben ist, aber das erwaehnt sie selber nicht und ich ruehre nicht daran. Mit der grossen Liebe ihres Lebens lebte sie auf Sansibar, sie hat nie geheiratet. Ploetzlich steht sie auf, bricht das Gespraech ab, kuesst mich ganz zart auf den Hals und den Mund und sagt: "Thank you, Harry. Ich wuensche dir eine gute, sichere Reise, viel Glueck, du wirst es schaffen, Gott segnet dich, ich muss morgen sehr frueh nach Arusha zurueck. Gute Nacht." Mit einem letzten Blick hoch zum Berg, schliesse ich meine Tuere. geschrieben am 27.10. in Daressalam
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