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Reisetagebuch

10/31/2004   Tansania / Bwawani

Ein Remmy

Aufbruch nach Mbeya

(Harald) Wie meist beim Aufbruch nach einem Aufenthalt, bin ich morgens schon nervoes, es ist wie eine Wappnung auf das Kommende, die Anstrengung, den Abschied, die Veraenderung.

Beim Einwerfen von Postkarten spricht mich ein junger Mann an. Er war ein paar Tage mit einem Musungu zusammen in Dar unterwegs, der schon 34 Laender mit seinem Fahrrad bereist habe- da weiss ich gleich, dass kann nur Petro sein, der mir unterwegs vor Same entgegenkam. Was fuer ein Zufall.

Ich fahre stadtauswaerts zur Busstation, die etwa 10 km vor der City liegt und setze mich dort in einen Dalla-Dalla. Binnen 2 Stunden bringt mich der Minibus nach Chalinze zurueck, wo ich mich kurz versorge und dann Richtung Mbeya weiterfahre.

Die Strecke ist nett, aber nichts besonderes. Klein-Landwirtschaft bestimmt das Bild, Gemuese und Obst wird am Strassenrand angeboten. In langen Wellen zieht sich die Strasse dahin, ich komme gut voran.

Am Abend begleitet mich, wie so oft, ein Radfahrer. Er ist auch 46 Jahre alt und wills wissen, schwitzt sich richtig ab, um mitzuhalten. Trotz Gepaecks habe ichs dank Gangschaltung aber leichter. In der uebernaechsten Ortschaft geleitet er mich in eine schoene, neue Schankwirtschaft, wo ich neben mehreren Massai-Moran meine Soda trinke.

Der Inhaber heisst Remigius Raphael, Nickname Remmy, ist Bueroangestellter eines in der Naehe neu angelegten Nationalparks und nutzt sein gutes Einkommen, um dieses Lokal aufzubauen. Vor ca. zwei Monaten sei ein deutsches Radfahrerpaerchen dagewesen, die haetten ihm Tipps fuer seinen Business gegeben. Sie hiessen Renata und Ralph...

Ich fahre ins naechste Dorf und schlage hinter einem Laden, mitten im Ort, mein Zelt auf. Die Leute sind leise und freundlich. Ein junger Mann, voellig betrunken, hat von Eiter verklebte Augen, kann kaum noch sehen. Ich lasse ihm uebersetzen, dass, wenn er sein Geld weiter in Bier statt in Augentropfen investiert, er in ein paar Wochen erblinden wird, was er haendefuchtelnd von sich weist: "Alles Quatsch! Blind? Ich?" Ich warne die Muetter, denn die Krankheit kann sich auf die Kinder uebertragen (am naechsten Morgen sehe ich im Tageslicht, dass bereits beide Soehne der Gastfamilie kleine Eiterperlen in den Augenwinkeln haben).

Tina heisst die dralle, kleine Mutter eines Einjaehrigen, verheiratet in Dar mit einem Arzt und Apotheker. Sie hilft ihrer Tante im Laden und spricht gut Englisch.

Ob ich Christ sei, fragt Tina. Nein, bin ich nicht, getauft zwar, aber die Bibelstunden habe ich nach ein paar Besuchen sein gelassen. Meine Mutter hat vor dem Schlafengehen mit mir gebetet. Ich habe dann aufgesagt: "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus allein." Und das im Angesicht meiner Mutter: nur Jesus im Herzen! Der Mann ist tot!

Nachdem ich zwei Jahrzehnte Kirchensteuer gezahlt hatte, obwohl ich nicht betete, bin ich aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Bis dahin habe ich das, wie die Moslems, fuer meine Menschenpflicht gehalten, fuer die Armen zu spenden, eine Organisation zu unterstuetzen, die sich um die Schwachen kuemmert. Mit dem Prunk und Reichtum der Kirche hatte ich aber zunehmend Probleme, genauso wie mit der Missionierung und der Verwicklung der Kirche in die Voelkermorde in Amerika. Dann las ich von schmutzigen Geschaefte der Vatikanbank und Verwicklungen mit der Mafia, der Geheimloge P2 usw.

Tina will es genau wissen. Ob ich nicht an Gott glaube, ob ich nicht glaeubig sei.

Nein, ich glaube an keinen Gott. Aber daran, dass morgen die Sonne aufgeht- und das meine ich nicht ironisch, sondern durchaus ernst. Ich vertraue auf etwas, auf Regeln, Gesetzmaessigkeiten, Verlaesslichkeiten, Wahrscheinlichkeiten. Das gibt mir Sicherheit. Ich glaube daran, dass ich morgen frueh aufwache und leben werde. Das ich auf dem Boden stehen werde, mit Halt unter den Fuessen und nicht ins All davonfliege. Ich glaube fest daran, dass ich in den naechsten Tagen laecheln werde und daran, dass es Liebe gibt- auch wenn sie niemand sehen, messen oder kaufen kann. Ich glaube an grosse Gefuehle und an Schmerz, an den Tod, aber nicht an die Wiederauferstehung. Ich glaube an die Unendlichkeit und Ewigkeit, aber auch, dass unsere Vorstellungen davon falsch sind, weil sie auf Raum- und Zeitvorstellungen unserer kleinen Wirklichkeit basieren und nicht kosmisch dimensioniert sind.

Soll mir niemand sagen, ich haette keinen Glauben.

Tina sagt, sie glaube Gottvater habe sie geschaffen.

Wie mich das Wort "Gottvater" aufregt! Ich frage Tina, wie es ein Vater fertig bringen koennte, Menschen mit Krankheiten wie Elefantiasis, Lepra und Polio zu erschaffen, wie er Babys mit Aids gebaeren lassen koenne. Soll mir da keiner mit "Schuld" und "Strafen" und "Pruefungen" kommen, oder dem Schlagwort der "freien Wahl". Ich frage Tina, ob sie als Mutter es fertig braechte, ihr Kind wissentlich krank werden zu lassen, oder verkrueppeln oder sterben.

Natuerlich nicht, sagt sie. Und koenne das ihr Mann, der Vater ihres Sohnes? Niemals.

Siehst du, Tina, deshalb gibt es fuer mich keinen Vatergott im Himmel, der allmaechtig und allwissend ist. Denn waere er allmaechtig, wuerde er das Leid verhindern und waere er allwissend, dann habe er all das Leid schon bei der Schoepfung vorhergesehen. Gepaart mit der Macht, dies zu verhindern, aber dem Unwillen, es zu tun, quasi den ganzen, schon bekannten Film ablaufen zu lassen- das ist fuer mich zynisch und brutal und durch keine "Suende" als Strafe gerechtfertigt. Und braucht ein Gott wirklich all dieses Leid dieser Milliarden von Menschen die leiden, um sich geliebt, geachtet zu fuehlen, respektiert? Ist das Herz eines Gottes so klein, dass er auf Anbetung bestehen muss? Wenn ich Gutes tun will, verlange ich keinen Dank, es ist mir Beduerfnis. Ist es eines Gottes wuerdig, auf einer Entschuldigung, einer Bitte zu bestehen, um zu vergeben? Gibt es keine Gnade fuer den, der nicht darum bittet?

Wenn man angesichts unvorstellbaren Leids von "Gottes unerfindlichem Ratschluss" spricht, meint, dass es niemand verstehen und erklaeren kann- was nuetzt mir dann eine Religion? Nicht erklaeren im Sinne von Lebenssinnhaftigkeit kann ich mir das auch so nicht. Biologisch, evulotionaer ja.

Ich soll Ebenbild sein, aber gleeichzeitig mein Vorbild nicht verstehen koennen? Wie kann ich dann Ebenbild sein, wenn meine Lebensregeln von Naechstenliebe nicht fuer mein Vorbild gelten, oder sich ein Gott nicht durch seine Taten erklaert oder seine Nicht-Taten?

Ist es tatsaechlich so, dass die Christen in Afrika mehr lachen und weniger leiden, weil sie den "Rechten Glauben" haben? Und wenn sie genauso an Malaria verrecken, an Lepra verfaulen wie ein Muslim oder ein Hindu oder ein Animist- was nuetzt es dann? Muesste sich nicht logischerweise der eine einzige, richtige Glaube durch das Glueck seiner Anhaenger offensichtlich machen, quasi statistisch?

"Aber wer hat alles geschaffen?", fragt Tina.

Ich weiss das nicht. Aber abgesehen davon, dass ich nicht alles wissen muss und auch mit offenen Fragen leben kann, frage ich: Wer hat Gott erschaffen? Tina sagt, Gott sei doch ewig gewesen, sie lacht dabei, als habe ich einen Witz gemacht.

Wenn Gott ewig war, warum nicht dann das All, die Materie, die Energie? Was hilft es, das eine Unverstaendliche durch das andere zu ersetzen?

Ich erzaehle Tina von einem Vorfall, den ich heute gesehen habe. Ich wendete auf der Strasse mein Rad und fuhr zurueck, weil zwei blutig gepruegelte Knaben dasassen. Eine Gruppe Maenner um sie herum traten ihnen ins Gesicht, schlugen auf die am Boden Sitzenden, an den Handgelenken gefesselten, Burschen ein, die sich stumm ergaben. Kopfhaut, Stirn, Augenbrauen, alles aufgeplatzt, der Asphalt voller hellrotem Blut. Die Schlaege knallten wie Holzlatten auf nassem Lehm.

Dieser Mob war sicher heute am Sonntag in der Messe. Dort hat man ihnen dann zwei Stunden lang etwas von Naechstenliebe, Vergebung, Suende und den 10 Geboten erzaehlt. "Du sollst nicht stehlen", und: "Du sollst nicht toeten." Die Jungs sind halbtot, ich kann mich kaum ueberwinden weiterzufahren, aber man versichert mir, sie zur Polizei nach Morogoro zu bringen.

Hunderte von Dieben und Raeubern werden jaehrlich in Kenia und Tanzania von Christen im Mob getoetet. Beruehmt ist das "Moto", bei dem gefangenen Taetern ein Autoreifen um die Schultern gelegt, Benzin ueber das Opfer und den Reifen gekippt und dann angezuendet wird. In Kenia sind das ueber 300 Faelle im Jahr! Bei der Grosszahl der privaten Kirchen und den zahlreichen Anhaengern kann man getrost davon ausgehen, dass dieselben Leute am naechsten Sonntag wieder in irgendeinem Gottesdienst beten. Nur- was hilfts, all das Hallelujageschrei?

Wenn Religion fuer mich gemacht ist, sollte sie auch fuer mich in Gaenze erfassbar und erfahrbar sein, dann akzeptiere ich nicht, einen Gott nicht verstehen zu koennen.

In der Nacht kommt ein frischer Wind auf, es ist etwas kuehler als in Dar. Mir gehen die Bilder der beiden erwischten Diebe nicht aus dem Kopf. Was, wenn der Mob sie doch totgeschlagen hat?

Die Samburus haben ein Sprichwort: Lotupuroki lopeny ng-oki. (Einen armen Mann/Dieb hart zu bestrafen, ist eine Suende fuer einen Reichen)

Mit "hart zu bestrafen" ist auch "toeten" gemeint.

Und ein anderes Sprichwort sagt: Tinikimbae mimbaikoon. (Wenn du gehasst wirst, hasse selbst nicht)

geschrieben am 4.11. in Iringa


 

 

 


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