11/26/2004 Malawi / Lilongwe
Alles oder Nichts
Jede Jeck iss angerscht
(Harald) Wenn ich durch Lilongwe fahre, sehe ich eine neue Stadt vor mir, Reissbrettviertel. Hier ist so gut wie nichts einfach "entstanden", die Stadt gab es vor 100 Jahren noch nicht. Fast haette ich geschrieben, hier waere "Nichts" gewesen, was mal wieder eine ganz europaeische Sicht gewesen waere, denn hier waren Waelder, Tiere und Menschen, also fast "Alles". Neben einigen Stunden im Netcafe benoetige ich mal wieder eine Zahnbehandlung. Manchmal habe ich schon gedacht, dass es ein Fehler war, meine Zaehne extra vor der Reise nochmals "ueberarbeiten" zu lassen , denn genau diese Beisserchen machen mir jetzt seit 2 Jahren Probleme. DEN Zahnarzt empfehle ich bestimmt nicht weiter... Die angegebene Adresse des "europaeisch ausgestatteten" Zahndoktors ist leider nicht mehr aktuell und die neue nicht zu finden. Jeder schickt mich von Hott nach Hueh bis ich aufgebe und in die Alte Stadt zurueckfahre. Wie zu Beginn jeder Regenzeit haben die Ameisen und Termiten jetzt Flugzeit und Milliarden von ihnen schwaermen aus, um den Genpool neu zu mischen, das kreative Element der Natur weiter aufrecht zu erhalten, zu beleben. Termiten, die in kuehleren Regionen leben, sieht man nur, wie jetzt, wenn sie aus kleinfingerbreiten Loechern aus dem Boden krabbeln. Ansonsten leben sie unterirdisch und nur ihre quasi ueberdachten Laufwege und ihre Frassschaeden sind Zeugen ihrer Anwesenheit. Da die Termiten kein Tageslicht moegen, laufen sie nicht wie die Ameisen ueberall umher, sondern bauen sich, aus Spucke und Erdkuemeln zu einer festen Baupampe geformte, Laufwege, die sich wie dicke Adern an Baeumen und Zaeunen hinaufranken. Zerstoert man diese Wege, sind sie binnen einer Nacht wieder verschlossen. In heissen Regionen errichten die Termiten Kuehltuerme aus Erde, in deren Oeffnungen sich der Wind faengt und somit Kuehlung in die Erdbauten lenkt. Ich selbst habe schon Termitenkamine von 8-10 Metern gesehen und in Lokologo einen Bau von etwa 10 Meter Umfang, eine ganze LKW-Ladung von Erde mit armdicken Loechern. Umvorstellbar, dass dies das Werk von 5-mm-Winzlingen ist und Sandkorn fuer Sandkorn einzeln herbeigeschafft und vermoertelt wird. In Malawi kann man an der Strasse die etwa 12 mm grossen Koeniginnen kaufen, die sich wie ein Strom aus den Erdloechern ergiessen und von "Jaegern", die stundenlang vor diesen Loechern hocken, einfach beim ersten Flugversuch mit der flachen Hand einen Schlag abbekommen und dann wie betaeubt herumtorkeln. Ganze schwarze und braune Haufen sammeln die Jaeger zusammen, die Autofahrer halten an und kaufen in kleinen Plastiktueten ein paar hundert Termiten. Zuhause werden die noch lebenden Insekten gewaschen, wobei die Fluegel abfallen, dann werden sie in Oel geroestet und gesalzen und gegessen. Fuer alle, dies jetzt schuettelt: Was ist mit Weinbergschnecken fuer Feinschmecker? Und den spinnenaehnlichen Krabben? Im Schweizer Appenzell hat man bis vor ein paar Jahrzehnten noch Hunde gegessen, bei uns waren Froschschenkel und Schildkroetensuppe beliebt und da sind noch lebende Austern zu erwaehnen... Jede Jeck is angerscht, jedem sinn Uhl usw. Ich sitze mit Ole im aethiopischen Restaurant "Sheba" und es nimmt mich nicht wunder, dass hier in Malawi einer meiner Reise-Speise-Albtraeume, das Indschera, als Delikatesse angeboten wird. Fuer auslaendische Gaumen sind die Schaumfladen hier weniger sauer zubereitet und werden in handlichen Roellchen serviert. Was im Ursprungsland 50 Cent kostet, wird hier fuer 6 Euro angeboten. Wir lassen es uns trotzdem schmecken, aber sehnsuechtige Erinnerungen wollen dann doch bei mir nicht aufkommen. Ole versucht z.Zt. erfolglos einen Heimflug umbuchen zu lassen und haengt unentschlossen in Lilongwe fest und fragend, wie ratsuchend, geht er seine Ueberlegungen durch, was er denn mit seiner noch verbleibenden Zeit bis zur Heimkehr anfangen soll. Wie so viele, denen ich in Afrika begegnet bin, lastet auch Ole Afrika irgendwie auf der Seele. Vorallem die Alleinreisenden, die nicht aus sportlichem Ehrgeiz schnell radeln, oder aus beruflichen Gruenden beschaeftigt sind, sondern die Seele eher baumeln lassen, sich treiben lassen, die offen sind fuer die Einfluesse dieses Kontinents, sind belastet, oft ohne es zu bemerken. Da ist soviel zu verarbeiten, zu bewaeltigen und die Seelenkraft geht dann nach und nach aus, das Auftanken wird immer schwerer, wenn man alleine ist. Mir selbst helfen das staendige Schreiben und die vielen offenen Gespraeche in der Spur zu bleiben. Spontan biete ich Ole an mit mir zusammen nach Blantyre zu fahren, vielleicht auch bis nach Harare und Bulawayo und von dort per Bus aus die Viktoriafaelle zu besuchen. Und nach 10 Minuten ist die Sache entschieden, wir zahlen und suchen ein Mountainbike fuer Ole bei einem der indischen Haendler nahe des Marktes und der grossen Moschee. In einer Buecherei hat mir der freundliche Englaender, ein richtiger Bibliothekar, wenn ihr versteht was ich meine, drei Kartons voller staubiger, deutscher Buecher im Hinterzimmer angeboten, in denen ich schweren Herzens manches literarische Kleinod zuruecklassen muss. In meinem Rucksack nehme ich u.a. Julien Greens "Paris" mit, eine Beschreibung der Hauptstadt anhand von "Augenblicken", sowie Ludwig Thomas "Muenchnerinnen", sein letzter Roman. geschrieben am 8.12. in Tete
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