7/16/2005 Zimbabwe / 15 km vor Beatrice
Mama Afrika
Neigungen
(Harald) Ich starte erst um 11.15 Uhr und habe 70 km vor der Brust. Herzlicher Abschied von Stefanus, der mich einlaedt wiederzukommen. Heute nimmt mich dann doch ein LKW-Fahrer aufs Korn- vielleicht ists einer aus S.A.. Immer wieder Blauaffen, aber nirgends Antilopen. Neben der Strasse erneut auf ueber 100 Metern verbrannte Curio-Staende, verkohlte Schnitzereien, zerschlagene Buesten. Ein junger Mann und sein juengerer Bruder sehen mich fotografieren. Ich finde eine fast vollstaendige, abstrakte Frauenbueste und stelle sie sorgfaeltig wieder auf, den Blick nach Norden gerichtet. Warum ich das mache, fragt der Mann. „Das ist Mama Afrika. Sie ist traurig und wuetend, kannst du das sehen?" frage ich ihn. Er lacht. „Sie schaut nach Norden, nach Harare, wo die Verantwortung fuer das hier zu Hause ist.“ Ja, redet mir der Mann nach dem Mund, sie wolle Rache. Es ist das, was er denkt, dass ich hoeren will und gleich wird er mich um etwas fragen. „Nein. Mama Afrika raecht sich nicht. Sie ist sehr geduldig und wartet einfach ab.“ Und dann fragt er mich um Geld und ich gebe ihm eine Orange und fahre weiter. Zwei Rollstuhlfahrer mit zusammengefalteten Polio-Beinen blockieren fast die Strasse, sie betteln, angeblich fuer neue Rollstuehle. Die Regierung zahle ihnen keine Pension, was nicht stimmen muss, aber in jedem Fall ist es zu wenig zum Leben. Was koennen junge Burschen voller Saft wie diese beiden schon arbeiten? Was koennen sie sich an Unterhaltung leisten und mit Maedchen laeuft auch nichts, jedenfalls nicht ohne Geld. Ich gebe ihnen Geld und mein Biltong, das mir Stefanus geschnitten hat. Die Autofahrer rasen gnadenlos knapp zwischen ihnen durch, dass Betteln auf der schmalen Strasse ist lebensgefaehrlich. Claudius und Jim heissen sie, Mitte Zwanzig. Wir verabschieden uns mit afrikanischem Handschlag. Spaeter eine Pause in einem Restaurant. Der „Greyhound“-Bus aus Pretoria braust vorbei, drinnen sitzt sicher Christina. Ein offensichtlich gebildeter Mann spricht mich an, erklaert mir, dass die Politik nicht sozialistisch sei, wie die Regierung behauptet, sondern wohl eher eine Diktatur (haben nicht alle sozialistischen/kommunistischen Staaten dazu geneigt?). Er trinkt „Castel“, Pils-Flaschenbier, mit seiner drallen, blutjungen Freundin, die schon angetueddelt ist. Er war in der ersten Austauschgruppe mit Kuba seinerzeit. Diese Programme verschafften jungen Leuten aus sozialistisch orientierten Laendern in Afrika die Moeglichkeit nach Uebersee zu gehen um dort zu studieren oder Berufe zu erlernen. Weiter gehts. Die Strecke vornehmlich abwaerts, Rueckenwind, ich fliege nur so dahin. Grosse Pause auf einem Baumstamm, ich schreibe, verschnabuliere mein restliches Biltong, Bananen, Kekse und Schokolode. Der Himmel jetzt wolkenlos, 22 Grad mag es warm sein, ein perfekter Radfahrtag. Ich habe Schwierigkeiten die Zufahrt zur Ranch zu finden. Ein Autofahrer ruft ueber sein Handy dort an und Deon und seine Freundin holen mich in einem hellblauen Toyota ab. Deon Steenkamp besitzt eine Molkerei und ein schoenes Geschaeft an der Strasse, seine Freundin lebt im nahen Harare. Ich rufe in der Hauptstadt bei Andy an, dem dort fuer uns arrangierten Gastgeber. Christina ist dort sicher angekommen und wurde von Andy am Bus abgeholt- alles o.k., ich bin erleichtert. Wir werden uns morgen sehen. Gutgemeinter Kommunismus neigt zur Diktatur. Aber dies ist vielem Guten passiert: "Rechtschaffenheit neigt zur Selbstgerechtigkeit. Sparsamkeit neigt zum Geiz. Zurueckhaltung neigt zur Verschlossenheit. Unvoreingenommenheit und Optimismus neigen zur Naivitaet. Spontaneitaet neigt zur Chaotik. Kraft neigt zu Ungestuem und Ungestuem zur Zerstoerung. Freiheit neigt zur Grenzenlosigkeit. Entschlossenheit neigt zur Kompromisslosigkeit. Stille neigt zum Stillstand. Quirligkeit neigt zur Ruhelosigkeit. Leichtigkeit neigt zur Gedankenlosigkeit. Schnelligkeit neigt zur Hast. Selbstsicherheit neigt zur Arroganz. Grosszuegigkeit neigt zur Verschwendung. Strafe neigt zur Rache. Ruhe neigt zur Verharrung. Gewissheit neigt zum Starrsinn. Demut neigt zur Unterwerfung. Ausgelassenheit neigt zur Hysterie. Wahlmoeglichkeit neigt zur Wahllosigkeit. Staerke ist Schwaeche. Wahrheit ist Luege." Harald Radtke, "Gedanken" geschrieben am 15.8. in Harare
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